Ende einer Welt. Claude Anet

Ende einer Welt - Claude Anet


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immer wieder unter Gefährdung ihres Lebens und unter unsäglichen Anstrengungen und Opfern Nahrung für Frauen, Kinder und Greise erbeuten mußten.

      Seit einigen Generationen aber zeigten sich kaum wahrnehmbare Änderungen in der Temperatur, die dennoch so aufmerksamen, geduldigen und geübten Beobachtern, wie es die Söhne des Bären waren, nicht entgehen konnten. Die Winter verloren immer mehr an Kälte, und die Sommer wurden heißer.

      Einst – so lauteten die Berichte der Greise, in deren schwachem Gedächtnis sich allerdings die eigenen Erinnerungen unentwirrbar mit den mündlichen Überlieferungen des Stammes vermengten, so daß es nachgerade unmöglich war, die Erlebnisse ihrer eigenen Jugend von der unbewußten Wiederholung dessen zu unterscheiden, was ihnen von ihren Vorfahren erzählt worden war – einst sollte das Land fast während der Hälfte des Jahres von einer schimmernden Schicht Schnee bedeckt gewesen sein. Damals in diesem für sie günstigen Klima wimmelte es von Renntieren. Vier bis fünf große Herden hielten sich ständig im Tale auf. Die Jäger verfolgten sie mit Schneereifen an den Füßen. Überfluß herrschte in den Wohnstätten. Aber jetzt war Regen an Stelle des Schnees getreten. Der Winter verlief in eisiger Feuchtigkeit, unter der die Renntiere furchtbar leiden mußten.

      So klagten die alten Männer, während sie ihre erstarrten Glieder am Feuer wärmten. Ungeduldig hörten die jungen Leute zu. Die Greise faselten; glaubten sie denn, daß die Welt mit ihnen zu Ende sei?

      Die Weisen jedoch schüttelten den Kopf. Wie konnte man leugnen, daß das Leben ringsum sich änderte. Die Tiere merkten es ebenso wie die Menschen; sie waren ständig in Unruhe. Das Wild mit schönem Pelz wurde immer seltener. Wie viele Zobel wurden jetzt noch während eines Jahres vom ganzen Stamm erlegt? Silberfüchse und Blaufüchse gab es nur noch in verschwindender Menge. Warum verließen die einen und die anderen das Land? Neue Arten tauchten auf. Man jagte jetzt den Hirsch, der früher unbekannt gewesen war. Doch, war der Hirsch ein Ersatz für die gewohnte Beute? Seine Haut war unverwendbar und sein Geweih zu weich, um bearbeitet zu werden.

      Und das Renntier verschwand. Das war eine Tatsache. Schon seit langem erbeutete man so wenige, daß sich nur mehr die Jäger in ihr vorzügliches Fell kleiden konnten. Ohne Zweifel wechselten die Renntiere oft, aber sie waren noch nie, wie diesmal, ein ganzes Jahr fortgeblieben. Man begann schon zu glauben, daß man sie niemals wiedersehen würde.

      Dieser Gedanke verursachte eine wahre Panik im Stamme. Die bei erbitterten Frauen natürliche Ungerechtigkeit führte sie dahin, ihren Männern vorzuwerfen, daß sie sich nicht mehr auf die Jagd verstünden. Man sollte es nur wissen, ohne die Felle der Renntiere konnten sie sich nicht behelfen! Die Männer ihrerseits wandten sich an Rahi, den Häuptling, und an die Weisen. Ihnen oblag der Schutz des Wildes. Ihre Pflicht war es, die feindlichen Geister zu hindern, es zu entführen. Besaßen sie denn nicht Mittel genug, um die Tiere, die zu flüchten versuchten, an eine Stelle zu bannen und jene, die geflüchtet waren, zurückzurufen? Wenn ihre Zauberkräfte nicht mehr ausreichten, wie konnten sie es dann wagen zu behaupten, daß sie das geistige und körperliche Wohl des Stammes zu sichern vermochten? Der Häuptling wurde jeden Tag unbeliebter. Nur noch die Furcht, die er um sich verbreitete, weil er viele Geheimnisse der unsichtbaren Welt kannte, hinderte die Männer, sich offen gegen ihn zu erheben.

      Die Weisen bemühten sich, in der Öffentlichkeit ihre kaltblütige Ruhe zu bewahren. Sie suchten stets nur zu beruhigen, die Aufgeregtesten zu beschwichtigen. Ihre ganze Politik hieß: Zeit gewinnen. So predigten sie Geduld und erhofften zugleich von ihrem geheimen Wissen wie von der Zeit eine günstige Wendung. yy

      Die jungen Leute und die Mädchen nahmen an diesen ernsten Dingen wenig Anteil. Sie hatten Besseres zu tun, als in die Klagen der Alten einzustimmen.

      No mit seinen Gefährten bereitete sich auf die Prüfungen vor, die ihn erwarteten. Bald mußte er die Seinen verlassen. Die Gesetze gestatteten es nicht, daß ein Sohn, der zum Manne geweiht war, in der gleichen Hütte wohnte, in der seine Mutter und seine Schwester schliefen. Er mußte seine eigene Wohnstätte bauen, bei den Hochzeitsspielen ein Mädchen rauben und mit ihr als seiner Gefährtin leben. Ungeduldig sah er der Zeit entgegen, die ihm das schöne, freie Leben eines erwachsenen Mannes sicherte, der im Rate des Stammes seine Stimme hatte, sein eigenes Herdfeuer besaß und eine Gefährtin und Kinder, für die er sorgte. Doch um diesen ersehnten Zustand zu erreichen, mußte er alle Schrecken und Leiden der Einweihungsfeierlichkeiten über sich ergehen lassen.

      Er zwang sich, nicht weiter daran zu denken. Das Verlangen, in den Kampfspielen auf der Wiese, am Flusse, zu siegen, verdunkelte alles andere. Trotz der widrigen Jahreszeit hatten sich die jungen Leute ihrer Kleidung entledigt. Sie maßen im Durchschnitt mehr als sechs Fuß. Verächtlich lächelte man im Stamme, wenn man sich an ein Volk erinnerte, das eine gelbe Haut und geschlitzte Augen gehabt hatte, und dessen Männer nicht einmal fünf Fuß hoch gewesen waren. Während eines langen, strengen Winters war es einmal, kaum zwanzig Familien stark, aufgetaucht. Sie sprachen fremde, unbekannte Worte, waren von Nordost gekommen und – man wußte kaum in welcher Richtung – wieder verschwunden, ohne daß man jemals noch etwas von ihnen hörte. Die Leute vom Fluß hatten manchmal solche Überraschungen, die die Eintönigkeit der Tage unterbrachen.

      Die Körper mit Fett eingerieben, übten No und seine Freunde sich im Ringen. Geschmeidig wie Lachse, stark wie Bären belauerten sie einander zunächst, um geschickt einem gestellten Bein oder Untergriff des Gegners auszuweichen. Wenn sie sich dann umschlangen, krachten ihre Knochen; endlich rollten beide Kämpfer im Gras, bis es schließlich einem von ihnen gelang, den Gegner unter sich festzuhalten.

      Mädchen und Frauen sahen den Spielen nicht zu, aber die Alten waren da, gaben den Kämpfern ihre Ratschläge und feuerten sie durch ihre Schreie an.

      Das Wettlaufen begann. Durch Generationen dauernde ständige Übungen hatten nach und nach den Knochenbau dieses Jägervolkes verändert – die Unterschenkel verlängert, den Brustkorb entwickelt, die Beinmuskeln geschmeidiger und ausdauernder gemacht – so sehr, daß jetzt die besten Läufer unter günstigen Umständen imstande waren, selbst einen flüchtigen Rehbock einzuholen. So hatte jeder einzelne jene Geschwindigkeit erreicht, die ihm und seinem Stamme zur Existenz unerläßlich war. Übrigens unterwarfen sich die Läufer einer streng geregelten Lebensweise. Sie aßen nur die Schenkel von Renntieren und Pferden, um sich auf diese Weise das Wesentlichste der Schnelligkeit dieser Tiere, von denen sie sich nährten, einzuverleiben. Die übrigen Teile der Tiere wurden den anderen überlassen.

      Bei ihren Übungen liefen sie immer zu zweit. Zehnmal mußte eine Strecke von etwa zweihundert Schritt, die zwischen zwei Bäumen abgemessen worden war, durcheilt werden. Die harmonische Kraftentfaltung bildete einen prächtigen Anblick: wie gespannt von der Anstrengung war jeder Muskel der ganzen sehnigen Gestalten, der Kopf lag zurückgebogen, das Kinn weit vorgestreckt, breit wölbte sich die Brust gleich jener des Bisons; wie bei den Wölfen war der Unterleib gekrümmt und eingezogen, und die Füße am Ende der schmalen Beine, die viel länger als der Oberkörper waren, schienen den Boden kaum zu streifen. Manchmal fuhren Platzregen peitschend auf sie nieder, dann stiegen Dampfwolken von ihren glänzenden Körpern auf.

      No war im Laufen einer der Besten. Wenn ihm für die größeren Entfernungen auch noch der Atem mangelte, so war er doch auf hundertfünfzig Schritte von keinem zu überholen, und der Sieg über diese Strecke war der begehrteste.

      Sie übten sich auch im Bogenschießen und Speerwerfen. Die Spitzen der Speere wie die der Pfeile waren aus den Geweihen der Renntiere geschnitzt. Ein guter Jäger traf mit seinem Speer auf fünfzig Schritt. Pfeifend durchschnitt er die Luft und zitterte und schwankte, als wolle er jeden Augenblick aus seiner Bahn ausbrechen. Aber eine Kraft in ihm hinderte ihn daran. Er rammte sich in den Stamm einer jungen Birke. Dann vernahm man einen dumpfen Ton. Die Birke klagte über die erhaltene Wunde. Nichts Schöneres gab es als die Bewegung der jungen Leute, die, ihre Waffe schwingend, losstürmten. Plötzlich blieben sie wie angewurzelt stehen, mit dem linken Bein sich vorwärts gegen den Boden stemmend, und der Speer, der ihren rechten Arm machtvoll verließ, schien in der Luft den rasenden Lauf des Jünglings fortzusetzen.

      Wenn die Spiele beendet waren, tauchten sie ihre dampfenden Körper in die kalten Fluten des Stromes. Dann legten sie wieder ihre Kleider an und kehrten zu den Wohnstätten zurück, wo sie von den vollbrachten


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