AVOGADRO CORP.. William Hertling

AVOGADRO CORP. - William Hertling


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arbeiten, aber rührt die Systemgenauigkeit nicht an. Ich sehe zu, dass ich die benötigten Ressourcen auf anderem Weg bekomme.«

      »Bist du da ganz sicher?«, fragte Mike mit erhobenen Augenbrauen.

      »Ja, das bin ich. Wir werden die Ressourcen bekommen.« David klang plötzlich zuversichtlich.

      Mike verließ ihn mit einem Gefühl der Verunsicherung. Ihre Galgenfrist lief in wenigen Tagen ab. Was hatte David vor?

      Nachdem Mike gegangen war, erhob sich David und ging zum Fenster hinüber. Er sah hinaus auf die nassen Straßen, die im Licht der Straßenlaternen glänzten. Die Straßenbahn von Portland hielt gerade vor dem Gebäude gegenüber, um ein paar Nachzügler aufzulesen.

      Auf der einen Seite war Gary Mitchell, der Leiter der Abteilung für Kommunikationsprodukte, ein Narr ohne Visionen. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ELOPe als Erweiterung für gerade jenes Produkt gedacht war, für das Gary verantwortlich war, nämlich für Avogadros E-Mail-Service. AvoMail würde eine unglaubliche Aufwertung erhalten, wenn ELOPe einsatzbereit war und obwohl David die Anerkennung für die Entwicklung erhalten würde, wäre es doch Garys Abteilung, die durch zusätzliche Nutzer und steigende Umsätze finanziell davon profitieren würde. Alles was Gary tun musste, war das Projekt in geringstmöglicher Weise zu unterstützen, um den ganzen Ruhm einzustreichen.

      Auf der anderen Seite musste David zähneknirschend eingestehen, dass er, wäre er an Garys Stelle gewesen, sich auch Sorgen wegen möglicher Ausfälle gemacht hätte. Aber verdammt noch mal, manche Dinge waren das Risiko wert.

      David analysierte das vorliegende Dilemma. Gary würde nicht einwilligen, ELOPe auf seinen Servern zu lassen, weil es zu viel Ressourcen verschlang. Die F&E Server kamen nicht infrage, weil sie nicht leistungsfähig genug waren. Also musste ELOPe entweder weniger Ressourcen verbrauchen, was offenbar nicht möglich war, oder sie brauchten neue Server für den Betrieb. Oder die Anzahl der Mailserver musste sich vergrößern. Weniger Ressourcen zu verbrauchen, war ein technisches Problem. Mehr oder andere Server zu bekommen war ein menschliches Problem. Eigentlich ging es darum, die richtigen Menschen von der Notwendigkeit zu überzeugen. Da konnte er etwas machen. Er setzte sich wieder an seinen Computer, reckte die Arme, räumte einen Papierstapel aus den Weg und machte sich an die Arbeit. Er öffnete einen Editor und begann zu programmieren.

      Die Stunden vergingen wie im Flug. David sah auf die Uhr unten auf seinem Bildschirm und stöhnte. Christine würde ihn umbringen. Es war beinahe vier Uhr morgens. Sie vergab ihm seine zeitaufwendigen Arbeitsgewohnheiten, aber bei Nachtschichten machte sie ihm die Hölle heiß. Er würde zwei Tage lang unleidlich sein, bis er den verpassten Schlaf nachgeholt hatte und sie würde böse auf ihn sein, weil er so schlecht gelaunt war.

      Während er wieder versuchte, seinem Becher den letzten Tropfen Kaffee zu entringen, überlegte er bereits, sich mit einem weiteren Kaffee zu versorgen. Er hatte jetzt nichts mehr zu verlieren. Nach stundenlangem Programmieren erhob er sich unter schmerzvollem Protest seines Rückens. Seit seiner Diskussion mit Mike waren sechs Stunden vergangen und ihm schien, als habe er ihr Ressourcenproblem fast gelöst.

      Mit dem Becher in der Hand tappte er in Socken über den mit Kork ausgelegten Korridor. Er füllte ihn mit Kaffee, fügte Milch und Zucker hinzu und stand minutenlang da, halb benommen vom Schlafmangel und ließ sich von dem heißen Gebräu aufwärmen. Er blickte den Korridor hinauf und hinunter, die hellen und dunklen Muster verschwammen vor seinen müden Augen. Selbst das Brummen der spätabendlichen Staubsauger war nur noch eine vage Erinnerung und nun hatte sich eine seltsame Stille über die Büros gelegt, eine Art von Stille, die sich nur einstellte, wenn jedes lebende Wesen einen Ort schon vor Stunden verlassen hatte. David war sich nicht sicher, was das über ihn aussagte. Er schlurfte zurück an seinen Schreibtisch. Über seine Tastatur gebeugt sah sich David noch einmal die Programmzeilen an. Die Änderungen, die er gemacht hatte, waren subtil, sehr subtil sogar. Es war meisterliche Programmierarbeit, die Art von Arbeit, die er seit den frühen Tagen des Projekts nicht mehr gemacht hatte, als es nur ihn und Mike gegeben hatte. Er musste sehr vorsichtig sein bei jeder Programmzeile, die er veränderte. Ein einziger Fehler konnte das Ende des Projekts und seiner gesamten Karriere bedeuten. Etwas mehr als eine Stunde später überprüfte er das Programm ein letztes Mal. Endlich zufrieden schickte David seine Änderungen ins Hauptverzeichnis. Sie würden automatisch in den Quellcode eingefügt und getestet werden. Zum ersten Mal seit Stunden lächelte er. Problem gelöst.

      Kapitel 3

      Gary Mitchell nahm die ›Avogadro‹-Ausfahrt von der Freemont Bridge herunter und fuhr auf das Tor des Parkhauses zu. Seine Scheinwerfer wurden von den Leuchtstreifen der Schranke in die Dunkelheit des frühen Morgens zurückgeworfen. Siegessicher präsentierte er dem Lesegerät seinen Firmenausweis. Die Schranke hob sich und Gary fuhr in das fast leere Parkhaus, ein breites Lächeln auf seinem Gesicht.

      Nur noch zwei Tage bis zum Stichtag, an dem er ELOPe von den Servern werfen konnte. David und Mike hatten nichts getan, um den Speicherbedarf zu reduzieren. Gary freute sich bereits darauf, eine E-Mail an Sean Leonov zu senden, um ihn wissen zu lassen, dass er ELOPe ausschalten würde. Auf diesen Tag hatte er seit Monaten gewartet. Am liebsten hätte er gleich den Stecker gezogen und dann erst die E-Mail geschickt, aber er wusste, dass es Sean verärgern würde, wenn er ELOPe ohne Vorwarnung abschaltete. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er so früh in sein Büro kam. Auf Gary wirkte das leere Gebäude seltsam beunruhigend. Er schob das Gefühl beiseite und dachte daran, wie er die E-Mail verschicken würde, was das Lächeln wieder auf sein Gesicht zurückkehren ließ. Einige Minuten später passierte Gary den leeren Schreibtisch seiner Sekretärin und ging in sein eigenes Büro. Als sein Computer hochfuhr, öffnete Gary sofort seine E-Mails um die Nachricht an Sean zu verfassen.

      Von: Gary Mitchell

       An: Sean Leonov

       Betreff: ELOPe Projekt

       Zeit: 6:22

      Sean,

       ich wollte Sie nur vorab informieren, dass ich am Freitag ELOPe den Zugang zu den Produktionsservern entziehen werde. Sie verbrauchen fast 2000 mal mehr Serverkapazität, als wir Ihnen ursprünglich zugewiesen haben. Ich habe Ihnen praktisch freien Zugriff gewährt, solange wir ausreichende Zusatzkapazitäten hatten, weil ich weiß, dass Ihnen das Projekt am Herzen liegt. Allerdings verbrauchen Sie jetzt so viel Kapazitäten, dass wir zweimal gezwungen waren, auf die Reserveserver auszuweichen. Wie Sie wissen, kann es, sollten wir die Reserven ausschöpfen, verbreitet zu Ausfällen bei AvoMail kommen. Als das beim letzten Mal passierte, verloren wir ein Dutzend Geschäftskunden, mit denen wir in laufenden Verhandlungen standen. Wieder und wieder habe ich mit David und Mike gesprochen, aber sie haben nichts getan, um ihre Serverlast zu reduzieren. Ich habe sie ein letztes Mal verwarnt und ihnen zwei Wochen gegeben, um sich darum zu kümmern, aber Sie haben nichts getan.

      Als die E-Mail fertig war, saß Gary da und freute sich hämisch. Dann wuchtete er sich hoch, um sich mit einem Kaffee und der Tageszeitung zu versorgen. Natürlich war es noch zu früh für ernsthafte Arbeit. Er würde die Zeitung lesen und in ein paar Stunden zurückkehren. Gary schlenderte pfeifend den Korridor hinunter.

      John Anderson ließ dankbar seine schwere Umhängetasche zu Boden gleiten. Er schlüpfte aus seinem nassen Regenmantel und hängte ihn hinter seinem Tisch auf. Schwer ließ er sich in seinen Stuhl fallen, doch die Federung fing sein Gewicht mühelos auf. Er seufzte bei dem Gedanken an einen weiteren Tag in der Beschaffungsabteilung, wo er Kaufanforderungen bearbeitete.

      Er warf einen zögernden Blick in seinen Posteingang und sah mehr als einhundert neue Nachrichten. Seine Schultern sackten ein wenig herab und er griff nach seinem Kaffee. John kümmerte sich diese Woche um die Kinder, daher hatte er sie vor der Arbeit an der Schule absetzen müssen. Durch Portlands verrücktes Schulsystem waren die besten öffentlichen Schulen frei wählbar. Er und seine Ex-Frau mussten sich zwischen einem Dutzend verschiedener Schulen entscheiden. Sie einigten sich schließlich auf die Environmental School im Südwesten Portlands. Johns Kinder liebten die Schule ebenso wie er. Leider wohnten sie im Nordosten von Portland, die Schule war im südöstlichen Viertel und die


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