Das Auge der Medusa. Johanna T. Hellmich
sollte …
Als Medusa im Café ankam, hatte sie ihr Lächeln verloren. Beunruhigt runzelte sie die Stirn. Sie wusste nicht, was passieren würde, wusste nicht, wer Alfred überhaupt war, warum er plötzlich wieder auftauchte. Warum ausgerechnet sie Charlys Traum empfangen hatte. Und trotz ihres Vertrauens in Clara wusste Medusa, dass ihre Freundin auch keine Antworten auf diese Fragen hatte.
Als sie das kleine Café Spilled Tea betrat, sah sie Clara, die ihr von einem Eck aus zuwinkte. Sie saß dort mit drei Freunden. Sie erkannte Leah und Lukas, doch die dritte Person kam ihr nicht bekannt vor. Die Unbekannte drehte sich mit dem Rest der Gruppe um, um Medusa zu begrüßen.
„Morgen!“, rief ihr Lukas zu.
„Morgen“, murmelte Medusa zurück. Sie gewöhnte sich nur langsam an Lukas‘ übertrieben fröhliche Art. Gerade so früh am Vormittag war ihr sein Strahlen einfach zu viel. Leah nickte ihr zu, was Medusa erleichtert erwiderte. Dann wandte Medusa sich der Fremden zu, doch bevor sie sich vorstellen konnte, fing diese bereits an zu sprechen.
„Hey, ich bin Vivien, aber du kannst mich auch Vivi nennen. Du musst Medusa sein!“
Clara zuckte leicht zusammen und warf Medusa einen entschuldigenden Blick zu, doch diese hob einfach nur die Schultern. „Hi, du kannst mich Me nennen.“
Vivien zog ihre Augenbrauen zusammen. „Me wie der Anfang von Medusa?“
Da sprang Clara ein, um sie zu retten: „Ja, genau. Me wie Medusa. Me mag ihren vollen Namen nicht besonders, deshalb nennt sie jeder einfach nur Me.“
Medusa nickte, und bevor Vivien irgendeine unerwünschte Frage stellen konnte, setzte Medusa sich schnell auf die Bank neben Clara. Deren Augen stellten die Frage, die sie im Moment nicht laut aussprechen konnte. Was ist letzte Nacht passiert? Medusa nickte ihr leicht zu. Sie würde von dem Traum und von allem, was sie erfahren hatte, erzählen, sobald sie unter sich waren. Sie bestellte einen Cappuccino und lauschte Lukas, der begeistert von seinem neuen Proseminar erzählte.
Clara und Leah studierten Psychologie, Lukas und Vivien hatten Sprachwissenschaft gewählt, wobei Vivien zusätzlich noch Soziologie studierte. Clara hatte einst gescherzt, dass Soziologie das Studium für Leute war, die Psychologie nicht schafften. Medusa fragte sich, ob sie noch immer dieser Meinung war. Sie war nicht interessiert an diesen Diskussionen über das Studentenleben. Sie selbst hatte sich gegen ein Studium entschieden und begonnen, zu arbeiten. So hatte sie Clara kennengelernt, die in der gleichen Bar wie sie kellnerte. Sie hatte für ein Semester Alte Geschichte studiert, doch bald herausgefunden, dass es ihr mehr brachte, die Literatur und entsprechenden Artikel zu lesen, als einem Professor angespannt für zwei Stunden zuzuhören.
„In Soziologie haben wir jetzt schon den ersten Test, könnt ihr das fassen? Das Semester hat gerade mal angefangen, und schon überhäufen die uns mit Aufgaben und Arbeitsaufträgen!“
Zustimmendes Gemurmel kam von allen Seiten. Vivien musste aufgefallen sein, dass Medusa sich bis jetzt still verhalten hatte, denn ihr nächster Kommentar war an sie gerichtet. „Was machst du eigentlich, Me?“
Medusa mochte die Art nicht, wie Vivien ihren Namen aussprach. Als ob er ein geheimer Witz war, den nur sie verstand. Sie spürte, wie ihre Stirn anfing zu jucken. Ihr Auge war durch Medusas Gereiztheit aufmerksam geworden und wollte sehen, was vor sich ging. Zum Glück hatte sie ihre Kräfte gut genug unter Kontrolle, um genau das zu verhindern. Sie verspürte auch kein Verlangen, ihre Magie ausgerechnet jetzt zu verwenden. Also setzte sie ihre halbleere Tasse ab und sah Vivien an.
„Ich arbeite. Mit Clara zusammen im Dreieck.“
„Ah. Interessant.“
Medusa kniff ihre Augen zusammen. Vivien war ganz offensichtlich nicht interessiert. Medusa fragte sich, was Lukas dazu gebracht hatte, diese Frau mitzubringen. Sie hatte ihr nichts getan, und doch verhielt sich Vivien, als hätte Medusa sie an den Haaren gezogen und wäre ihr auf die Füße gestiegen. Clara warf ihr einen schnellen Blick zu, auch sie hatte erkannt, dass Vivien anscheinend etwas gegen Medusa hatte. Lukas schien dagegen nichts zu bemerken und plauderte freundlich wie immer weiter.
Das Thema wechselte bald von Uni zum nächsten Wochenende. Es war geplant, eine kleine Bar-Tour zu unternehmen. Clara hatte sich auch schon freigenommen, was bedeutete, dass Medusa höchstwahrscheinlich ihre Schicht übernehmen musste. Vorausgesetzt, sie hatte das Alfred-Problem bis dahin gelöst.
Um kurz vor elf verabschiedeten sich Lukas und Vivien, sie mussten ins Institut für ihr Proseminar. Leah und Clara hatten noch etwas Zeit, bevor ihre Vorlesung begann, also setzten sie sich zu dritt in einen Park in der Nähe. Es war offensichtlich, dass Clara endlich allein mit Medusa sein wollte, um die letzte Nacht zu besprechen, doch gab es keine gute Ausrede, Leah loszuwerden.
„Hey, Me, warum kommst du nicht mit in die Vorlesung? Proflick ist wieder da, Clara hat dir sicher von ihm erzählt, oder?“
Leahs Kommentar überraschte Medusa. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich in eine Psychologie-Vorlesung setzen würde, doch hatte bis jetzt immer Clara sie eingeladen. „Ähm…“
Clara ging sofort darauf ein. „Ja, komm mit, Me, oder hast du was Besseres zu tun?“
Beide wussten, dass das nicht der Fall war, also zuckte Medusa betont lässig mit den Schultern. „Von mir aus, warum nicht.“ Sie konnte jederzeit gehen, sobald es ihr zu viel wurde. Und vielleicht würde es ja sogar ganz interessant werden.
Der Tag verging ungewöhnlich schnell. Nach der Vorlesung trafen sie sich mit ein paar von Leahs Freunden und gingen gemeinsam zum Mittagessen, danach machten sie sich alle zusammen auf den Weg in die Bibliothek. Aus irgendeinem Grund fand Medusa, dass die geschäftige und konzentrierte Atmosphäre einer Bibliothek genau das war, was sie im Moment brauchte. Sie konnte sich nicht vorstellen, jetzt nach Hause zu gehen und dort allein auf den Abend zu warten. Und so setzte sie sich zwischen fleißig lernende und schreibende Studenten. Medusa legte ein leeres Blatt vor sich hin und schrieb in die Mitte einen Namen. Alfred. Dann zog sie dicke Linien von ihm ausgehend und kleinere, die von diesen abzweigten. An einen breiten Strich schrieb sie Charly, an einen anderen Heka, an den dritten Hilfe und an den letzten ein Fragezeichen. Am einfachsten war es, mit den Fragen anzufangen.
Und so schrieb sie: Wer ist Heka? Was ist Heka? Charly finden? Sekte finden? Alfred – Begabter? Heka – echt? Wer wird mir glauben? Welche Begabten könnten helfen?
Zu jeder Frage fand sie zehn mehr, bald war ihr Fragezeichen-Ast komplett beschrieben. Sie hatte mehr als genug Fragen, doch wenig Antworten. Was wusste sie?
Sie wusste, dass Alfred Heka Dämon und Gottheit genannt hatte. Der Name kam ihr bekannt vor, sie markierte die zwei Begriffe mit einem Stern. Außerdem wusste sie, dass es zumindest Anzeichen gab, dass Heka wirklich existierte. Außerdem wusste sie, wie Alfred aussah und wo Charly lebte.
Gerade als sie ihren letzten Einfall notieren wollte, stockte sie. Wusste sie wirklich, wo Charly lebte? Sie hatte es in seinem Kopf gesehen, sie hatte die Erinnerung, doch aus irgendeinem Grund wollte es ihr plötzlich nicht mehr einfallen. Sie seufzte und kringelte das Wort Wo ein. Sie wusste es, es war ihr nur entfallen. Zumindest hoffte sie, dass das der Fall war und nicht, dass sie Charlys Wohnort tatsächlich vergessen hatte. Das wäre mehr als ungünstig.
Medusa bemerkte, dass Clara verstohlene Blicke auf ihr Papier warf, doch ihre Schrift war zu unleserlich, als dass jemand etwas entziffern konnte. Medusa würde sie wohl oder übel am Abend während ihrer gemeinsamen Schicht im Dreieck auf den neuesten Stand bringen müssen.
Frustriert blickte sie auf ihr Blatt Papier und seufzte, weil ihr keine neuen Erkenntnisse kamen. Sie beschloss, eine kurze Pause zu machen, und stand von ihrem Platz auf. Sie machte sich auf den Weg aus dem Bibliothekssaal und holte sich einen Kaffee von der Maschine auf dem Gang. Der schmeckte bei weitem nicht so gut wie ihr Cappuccino am Morgen. Sie fragte sich, ob ihr Koffeinkonsum ihren Schlafrhythmus und dadurch ihren Traumwandel beeinflusste. Schlimmer kann’s eh nicht werden, dachte sie und trank den Rest des übersüßten braunen Wassers.
Als