Graues Land. Michael Dissieux
Seit vier Jahren lebten wir nun schon hier in den Hügeln oberhalb von Devon. Es war unser erstes gemeinsames Haus, das ich nach unseren Wünschen abseits der Straße errichtet hatte. Für uns war nie etwas anderes in Frage gekommen.
Mit dem Trubel der Städte konnten wir nichts anfangen, da wir beide unsere Kindheit in ländlichen Gegenden verbracht hatten und sehr genau wussten, wie es sich anhörte und roch, wenn eine Kuhherde in den frühen Morgenstunden über die Dorfstraße zu den Weiden geführt wurde.
Devon war unsere erste Wahl gewesen, als wir uns vor fast vier Jahren nach etwas umschauten, das wir unser eigenen nennen konnten. Die Preise waren billig, und die Lage geradezu perfekt.
Ich hatte mich in der Zeit an die unbeschreiblichen Entfaltungen der Natur hier oben gewöhnt. Doch für Sarah schien jeder Tag etwas Neues zu bringen, das sie entdecken konnte. Selbst ein Sonnenuntergang, wie wir ihn schon zu Dutzenden von unserer Veranda oder aus meinem Impala heraus bestaunt hatten, enthielt immer wieder neue Farben und Gerüche für sie.
Ihre Augen strahlten, als würde man einem Kind am Weihnachtsmorgen seine Geschenke geben. Und genau das war es, wieso die Hügel selbst für mich immer wieder aufs Neue erstrahlten, wenn ich Sarah an meiner Seite hatte.
Sie schenkte mir stets etwas von ihrer kindlichen Freude und der Fähigkeit, Dinge zu sehen, die für andere alltäglich geworden waren. Deshalb liebte ich sie immer noch wie am ersten Tag, und ich war mir damals schon sicher, dass dieses Gefühl in mir nie abklingen würde.
Selbst in vierzig Jahren nicht.
»Denkst du, dass Gott das mit Absicht macht?«, fragte sie und sah mich an.
»Was meinst du?«
Sie deutete mit dem Arm über die ganze Windschutzscheibe.
»Na, das. Ich meine, es gibt auf der ganzen Welt nichts Schöneres. Vielleicht will Gott uns damit sagen, dass nicht alles schlecht ist. Dass es auch Momente im Leben gibt, in denen nur ein Sonnenuntergang zählt und all das Böse in der Welt am Rande unseres Sichtfeldes verblasst.«
Sarahs Gesicht wurde ernst.
»Ob uns der Sonnenuntergang in der Stadt genauso gut gefallen würde?«
Wieder sah sie mich an, und ich bemerkte, dass es ihr mit dieser Frage durchaus ernst war.
Das waren die Momente im Leben, in denen man als Mann nur das Falsche sagen konnte. Doch ich war in der beneidenswerten Lage, dass ich genauso dachte und fühlte wie Sarah. Deshalb hatten wir vor fünf Jahren auch zueinandergefunden.
Und aus diesem Grund verstand ich durchaus, was sie mit dieser Frage meinte.
»Nein«, sagte ich leise, zog sie an mich und brachte ihre Wange nahe an meine.
Die letzten Sonnenstrahlen begannen, in den Augen zu blenden. Über die Spitzen der Berge jenseits von Devon hatte sich ein rötlicher Schleier gelegt, der langsam die Hänge hinabkroch.
»Ich glaube nicht, dass es in der Stadt überhaupt einen Sonnenuntergang gibt. Städte sind grau. Wo willst du die vielen Farben herholen? Außerdem …«
Ich zog Sarah noch näher an mich heran, berührte ihr Kinn mit den Fingerspitzen und drehte ihr Gesicht zu mir. Als sie mich anblickte, konnte ich das gleiche Glitzern in ihren Augen sehen, das sie dem Sonnenuntergang geschenkt hatte.
» … außerdem würden die Leute in der Stadt den Sonnenuntergang gar nicht sehen können. Denn es gibt keine Sarahs dort, die sie ihnen zeigen könnte.«
Sie lächelte, und ich küsste sie.
»Dich gibt es nur hier.«
Erinnerungen können die schrecklichsten Gefühle sein, zu welchen der Mensch fähig ist.
Ich schüttele den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken zu bekommen.
Die Erinnerungen an Sarah und unsere gemeinsame Zeit überfallen mich oft wie ein lauerndes Tier, das mich aus den Schatten der Wälder anspringt.
Plötzlich und unerwartet.
Immer wenn ich die Straße hinunter nach Devon oder zu Murphys Laden fahre, kommen mir Begebenheiten in den Sinn, die ich im Laufe der Jahre fast schon vergessen hatte.
Oftmals gebe ich mich ihnen hin, da diese Gedanken den einzigen Weg für mich bedeuten, wieder ein kleines Stückchen näher an meine Sarah heranzurücken und mit ihr zumindest für die Dauer der Fahrt zu kuscheln.
Das Erwachen aus diesen unbezahlbaren Träumen schmerzt jedes Mal. Doch in diesen Tagen, in denen die Welt jeden Platz, der mich je an Sarah erinnert hatte, in einen dunklen, verdorbenen Fleck verwandelt hat, schmerzt sogar die Erinnerung. Behalte ich normalerweise Sarahs Gestalt als letzte Reflexion meiner Erinnerungen vor Augen und sehe sie gar noch einige Minuten neben mir im Wagen sitzen, so wird mir ihr Antlitz an diesem Tag von dem Grau des neuen Tages mit brachialer Gewalt entrissen.
Ich bin alleine und fahre durch ein Land, in dem es nur noch mich zu geben scheint.
Meine Augen sind stur auf das graue und zerrüttete Band der Straße gerichtet.
Das gleichmäßige Dröhnen des altersschwachen Motors und das protestierende Quietschen der Karosserie, wenn ich durch Schlaglöcher und über Äste fahre, erfüllen meinen Verstand wie ein Schwarm Insekten. Sie scheinen mich mit ihrem Zirpen und Schnattern zu verhöhnen, fressen am Rand meines Bewusstseins und lassen die Hügel wie dunkle Auswüchse erscheinen.
Trotz des frühen Morgens hüllt sich der Tag in finstere Schatten. Die Berge und Felder, an denen mich die Straße vorbeiführt, ducken sich unter den grauen Wolken, die tiefer zu hängen scheinen als an anderen Tagen.
Vielleicht ist es wirklich so, dass der Himmel eines Tages auf die Erde fällt und alles Leben erlischt, denke ich und blicke zum Beifahrersitz. Mit der rechten Hand streiche ich über das zerschlissene Polster, dessen Nähte bereits aufreißen.
Nicht einmal mehr Sarahs Abbild aus meinen Erinnerungen kann ich mir bewahren.
Der Platz neben mir ist leer. Das Polster kalt.
So wie alles um mich herum ...
Instinktiv sucht meine Hand erneut ihren Weg zum Radio. Gerade will ich es einschalten, und sei es nur, um das statische Rauschen und Pfeifen zu hören, als die Abfahrt zu Murphys Laden zu meiner Linken auftaucht. Der Anblick der schmalen Asphaltstraße, die sich zwischen zwei hohen Hecken hinunter zur Hütte schlängelt, reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich bremse viel zu stark ab, so dass der Wagen mit schlingernden Reifen zum Stehen kommt. Das Gewehr rutscht vollständig in den Schatten des Fußraumes.
Die Taschenlampe fliegt polternd hinterher.
Mit zusammengekniffenen Augen starre ich die schmale Straße hinunter, die zu einem kleinen Parkplatz führt. Murphys alter Ford steht dort direkt vor den Holzstufen, die zum Laden führen.
Braune Blätter tanzen in kleinen Wirbeln über den Platz. Auf der Treppe liegen die dürren Gerippe von trockenen Ästen, die der Wind von den Birken gerissen hat, welche die Hütte in tiefen Schatten versinken lassen.
Die Tür zum Laden ist geschlossen, die beiden Fenster an den Seiten des Einganges mit großen Holzplatten vernagelt.
Der Anblick lässt meine Hoffnung auf ein Gespräch mit Murphy und eventuelle Vorräte sinken und macht mir gleichzeitig bewusst, welch ein Narr ich gewesen bin, mich überhaupt auf den Weg zu machen.
Zu Hause liegt Sarah alleine in ihrem Bett und braucht mich mit Sicherheit dringender als der alte Murphy, der noch nie die Hilfe eines anderen in Anspruch genommen hat.
Manche sagen, er sei ein verschrobener, merkwürdiger Kauz, mit dem nicht gut Kirschen zu essen sei. Die Leute kommen nur zu ihm, um ihre Einkäufe zu erledigen. Nur die wenigsten bleiben noch etwas länger, um mit Murphy ein paar Worte zu wechseln.
Jene,