Graues Land. Michael Dissieux

Graues Land - Michael Dissieux


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nur recht geben. Denn wenn man sich etwas näher mit dem alten Mann befasst, merkt man schnell, dass er eine eigene Meinung zum Leben mit sich herumträgt und nicht gut auf seine Mitmenschen zu sprechen ist.

      Doch diejenigen, die Murphy, so wie ich, seit über vierzig Jahren kennen, wissen, was ihn zu solch einem derartigen Griesgram hatte werden lassen.

      Denn es sind nicht seine Mitmenschen, denen er aus dem Weg zu gehen versucht. Vielmehr gehe ich davon aus, dass Murphy in seinem Glauben an Gott gebrochen hat.

      Ich selbst hatte Audrey gut gekannt und sie sehr gerne gemocht. Sie war eine bezaubernde, stille Person mit dem größten Herzen, das man sich in der heutigen Zeit vorstellen kann. Manchmal, wie ich mir sehr zu meiner Schande eingestehen muss, hatte ich darüber sinniert, dass ich, hätte ich meine Sarah nie kennengelernt, mit Sicherheit einen Menschen wie Audrey an meiner Seite haben wollte.

      Diesen Gedanken habe ich allerdings nie mit jemandem geteilt. Weder mit Murphy noch mit Sarah. Beide hätten damit wohl wenig anfangen können.

      Murphy hatte Audrey über alle Maßen geliebt. Er hatte mir einmal anvertraut, dass er den Laden nur eröffnet hatte, um seiner Frau ein besseres Leben zu ermöglichen. Was er nicht gekonnt hätte, wenn er als einfacher Kurierfahrer weiter gearbeitet hätte.

      Er wollte, dass Audrey glücklich war, und er hatte dafür alles getan.

      In früheren Jahren waren wir oft zu viert nach Devon zum Tanzen gefahren oder hatten uns ein paar schöne Stunden auf dem Volksfest gemacht, das zweimal im Jahr am Fuße der Hügel gastierte. Es waren unbeschwerte Augenblicke, in denen der Anblick unserer lachenden und schwatzenden Frauen bereits ein purer Genuss gewesen war. Damals war Murphy ein anderer Mensch.

      Ich kann heute nicht mehr erklären, in welcher Form. Vielleicht offener und den Kopf nicht so voll mit verrückten Gedanken über Gott und seine Art, seinen Geschöpfen das Leben zur Hölle zu machen.

      Vor allem hatte er damals nicht gewusst, was tiefempfundener Schmerz und brennende Trauer waren. Das hatten wir beide nicht.

      Für ihn war das Leben mit Audrey und seinem kleinen Laden eine immer blühende Blumenwiese gewesen, über deren Gräser der Wind sanft dahinstrich und auf ewig die Sonne schien, um den Tau funkeln zu lassen.

      Der Gedanke, dass sich über diese Wiese einmal die Nacht senken könnte, war ihm nie gekommen. Warum auch? Murphy und ich waren zwei verliebte Narren gewesen, die in ihrem Leben mit ihren Frauen das große Los gezogen hatten. Da wurde düsteren Gedanken im Kopf einfach der Zutritt verwehrt.

      Und doch hatte das Schicksal eines Tages einen besonders harten Schlag für Murphy bereitgehalten, denn niemand auf der Welt ist glücklich, ohne irgendwann die Rechnung dafür bezahlen zu müssen.

      Und Murphys Rechnung war verdammt hoch ausgefallen.

      Acht Jahre sind jetzt fast vergangen, seit er eines Abends in den Laden kam und Audrey hinter der Kasse gefunden hatte. Sie hatte leblos dagelegen, mit verrenkten Gliedern und einer kinderfaustgroßen Wunde an der Stirn, wo sie jemand einfach mit einem der großen Bonbongläser niedergestreckt hatte.

      Die Kasse hatte immer noch offen gestanden, rote und gelbe Bonbons lagen verstreut auf dem Boden.

      Aus dem Regal für Zigaretten hatten fast alle Päckchen gefehlt. Audreys Augen hatten blicklos zur Decke gestarrt, und als Murphy sie an jenem Abend so fand, war irgendetwas in ihm zerbrochen.

      Er war nie wieder derselbe gewesen, was ich durchaus verstehen konnte, wusste ich doch, was Audrey meinem Freund bedeutet hatte.

      Manchmal hatte ich das Gefühl gehabt, einem vollkommen Fremden gegenüberzustehen.

      Murphy hatte sich zurückgezogen. Von allem und jedem. Selbst von mir und Sarah. So oft sie in dieser Zeit auch zu ihm gegangen war, um für ihn da zu sein oder einfach nur mit ihm zu reden, so frustriert war sie auch wieder nach Hause gekommen.

      Auch ich, der ich mich damals als Murphys besten Freund bezeichnet hatte, fand keinen Zugang zu seiner Trauer und schaffte es nicht auch nur ein einziges Steinchen aus seiner selbst errichteten Mauer der Isolation herauszubrechen.

      Nach Devon fuhren wir nie wieder.

      Murphy entwickelte sich immer mehr zum Eigenbrötler, dessen Augen oft in weite Ferne gerichtet schienen, und der nur das Nötigste sprach.

      Ich glaube, wenn ich heute so darüber nachdenke, waren Sarah und ich zu dieser Zeit die Einzigen gewesen, mit denen er zumindest ab und zu noch eine Tasse Tee getrunken hatte, nachdem wir in seinem Laden einkaufen waren. Geredet hatte er dabei nie viel. Er antwortete auf unsere Fragen oder sprach über Belanglosigkeiten. Das Thema Audrey vermieden wir alle drei.

      Später, als Sarah nicht mehr mit in den Laden kommen konnte, wandte Murphy sich mir etwas mehr zu, ohne sich jedoch weiter zu öffnen, als er es selbst wollte. Vielleicht tat er das nur, weil er mit mir mitfühlen konnte.

      Er wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn man den Menschen verlor, der einem am wichtigsten im Leben war.

      Wenn der Sonnenschein über der Blumenwiese plötzlich von dunklen Wolken verdeckt wurde.

      Zu jener Zeit waren wir wieder so etwas wie Freunde gewesen. Zwar nicht in dem Maße, wie wir es auf den Volksfesten in Devon waren, wenn sich das Funkeln blinkender Lichter in unseren verliebten Augen gespiegelt hatte. Aber doch so weit, dass ich Murphy meinen Schmerz anvertrauen konnte und er mir zuhörte, ohne peinlich berührt in eine andere Richtung zu schauen.

      Daran muss ich denken, als ich den verwaisten Parkplatz vor dem Laden betrachte.

      Sein Ford scheint seit Tagen nicht mehr bewegt worden zu sein. Um die Reifen haben sich hohe Blätterhaufen angesammelt, die im Morgenwind fast schon zärtlich mit dem porösen Gummi spielen.

      Im Obergeschoss der Hütte, in dem Murphy damals mit Audrey lebte, und er jetzt allein in der geräumigen Wohnung dahinvegetiert, sind die Holzläden geschlossen.

      Sie wirken wie die blinden Augen eines Toten auf mich und verleihen der Hütte den Eindruck der Verwahrlosung und Aufgabe.

      Ich lasse den Pick-up am Straßenrand stehen, nehme das Gewehr und sehe mich nach allen Seiten um. Die Welt bleibt still, nichts bewegt sich.

      Als würde man eine farblose Fotografie betrachten.

      Mit langsamen Schritten gehe ich die schmale Auffahrt zur Hütte hinunter.

      Über mir kann ich das Rauschen der Birken hören, als würden die Bäume verzweifelte Hilferufe in den Himmel schreien.

      Sonst folgt mir nur dieses unheimliche, zur neuen Welt gehörende Schweigen.

      Als ich mich dem Haus nähere, versuche ich verzweifelt den Schwall an Erinnerungen zu unterdrücken, der aus jeder Ritze der Hütte zu sickern scheint. Ich konzentriere mein Augenmerk auf die geschlossenen Fenster der Wohnung. Doch das Haus macht einen verlassenen Eindruck. Nichts zeugt davon, dass die Räume Leben beherbergen. Die Kälte und das Gewicht des Gewehrs in meinen Händen beruhigen mich etwas. Dennoch kann ich nicht verhindern, dass sich eine erbitterte Furcht in meinem Körper einnistet und jedes Organ mit seinen kalten Klauen umschlingt. Sarah würde mich einen ausgewachsenen Narren nennen, wenn sie wüsste, was ich hier tue.

      Ein Blick auf Murphys Haus genügt, um zu wissen, dass mein Freund nicht mehr hier lebt.

      Doch dann schaue ich zu seinem klapprigen Ford mit den braunen Blätterhaufen um die Reifen. Erst jetzt erkenne ich zahlreiche Äste und Zweige, die auf der langen Motorhaube liegen und beginnen, die fleckige Windschutzscheibe zu bedecken.

      Noch nie in meinem Leben habe ich mich innerlich so zerrissen gefühlt.

      Noch nie so einsam …

      Unschlüssig stehe ich am Rande des kleinen Parkplatzes und lasse meinen Blick über die vertraute und doch so erschreckend fremde Szenerie wandern.

      Keine Erinnerungen, denke


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