Graues Land. Michael Dissieux
Ich weiß nicht, ob man die Zukunft träumen kann. Doch ich glaube, dass ich genau dies mein Leben lang getan habe.
Schon als kleiner Junge bin ich in der Nacht schreiend aufgewacht, das grässliche Abbild einer Welt vor Augen, die still und leer war, und deren Asche den Himmel verfinstert hatte.
Erst durch die tröstenden Worte meiner Mutter und ihrem vertrauten, warmen Geruch verblasste die schreckliche Szenerie in meinem Kopf und verkroch sich in die dunkelste Ecke meines kindlichen Verstandes, nur um in irgendeiner weiteren Nacht erneut aus ihrem Pfuhl emporzusteigen.
In den wiegenden Armen meiner Mutter verschwanden mit den Zerrbildern dieser stummen, entarteten Welt auch die Kreaturen, die sich in Schatten und Dunkelheit verbargen.
Ich vermisse meine Mutter sehr. Selbst jetzt noch, da ich ein alter Mann von fast siebzig Jahren bin, denke ich oft an diese einzigartige Frau zurück. Wenn ich heute von Ihnen träume, ist niemand mehr da, dessen Körperwärme mich beruhigen kann.
Bis vor zwei Jahren hatte Sarah in dieser Beziehung die Rolle meiner Mutter übernommen. Zweiundvierzig Jahre sind wir nun verheiratet. Sie hatte mich bereits mit meinen schrecklichen Träumen kennengelernt. Und trotzdem, oder vielleicht sogar gerade deswegen, hat unsere Ehe so lange gehalten. Rückblickend glaube ich heute, dass ich schon vor langer Zeit den Verstand verloren hätte, wenn meine Sarah nicht gewesen wäre.
Wenn ich in den Nächten mit einem heiseren Schrei auf zitternden Lippen und mit bebendem Körper aufgewacht war, meine Stirn vor Schweiß geglänzt und ich mir, wie ich sehr zu meiner Schande eingestehen muss, in den letzten Jahren immer öfter während meiner Träume in die Hose gemacht hatte, dann hat sie mich mit der gleichen warmen Stimme und den gleichen zärtlichen Berührungen beruhigt, wie es einst meine Mutter getan hatte.
Sie hat über den Gestank hinweg gesehen, der von meinen Laken aufgestiegen war, mir das nasse Haar aus der Stirn gestrichen und mich in ihren Armen gewiegt. Und nicht selten haben wir dann bis zum Morgengrauen auf diese stille Weise, wie man es nur nach über vierzig Jahren Ehe tun kann, im Bett gelegen. Ohne zu reden, einfach nur füreinander da und darauf wartend, dass der dämmernde Morgen die grausamen Alpträume mit sich fortträgt.
Ich habe Sarah nie erzählt, von was ich träume, und sie hat auch nie danach gefragt. Obwohl ich mir nichts sehnlicher gewünscht habe, als endlich jemandem mit mir zusammen in den schwarzen, morastigen See eintauchen zu lassen, den mein Unterbewusstsein beherbergt.
Doch ich konnte es nicht. Manchmal denke ich, dass mich irgendetwas daran gehindert hat, meine Traumgespinste preiszugeben.
Vielleicht waren Sie es sogar, die mir einen seelischen Bannfluch auferlegt haben, der es mir unmöglich macht, mich selbst Menschen gegenüber, die ich über alles liebe, zu öffnen.
Sie, jene fürchterliche Kreaturen, die schattengleich durch das Dunkel dieser entvölkerten Traumwelt schleichen und mich in den Nächten martern.
Über diesen Aspekt habe ich mir nie Gedanken zu machen gewagt, denn eine solch konfuse und unheimliche Gedankenfolge hätte mich unweigerlich um den letzten Rest von Verstand gebracht.
Heute denke ich anders darüber.
Mittlerweile bin ich aus tiefster Seele davon überzeugt, dass es nicht mein eigenes Zutun ist, das mich daran hindert, von meinen nächtlichen Alpträumen zu erzählen.
Eine Zeit lang dachte ich an eine Art göttliche Obhut, die mich vor dem Spott meiner Mitmenschen zu schützen versucht. Denn wir wissen alle, wie grausam Menschen werden können, wenn sie in der Fassade ihres Gegenübers einen Riss entdecken.
Und in nichts ist der Mensch geschickter als gekonnt seine Finger in diesen Riss zu legen, zu reißen und zu graben, und die Ängste und Phobien ans Tageslicht zu befördern, die man dahinter zu verbergen sucht.
Doch wenn mich ein Gott vor Verhöhnung zu schützen versuchte, wieso ließ er es dann erst zu, dass mich meine Träume immer und immer wieder befielen?
Wurde in der Kirche nicht gepredigt, Gott sei allmächtig?
Besaß er nicht die Macht, diese grässlichen Ungetüme in meinen Träumen zu bannen?
Diese düstere Welt in meinem Kopf zu vernichten?
Die These eines göttlichen Schutzes verwarf ich schnell. Ich war nie ein sehr gläubiger Mensch gewesen. Über einen himmlischen Beistand nachzudenken und zu dem Schluss zu kommen, dass ein solcher überhaupt nicht existierte, würde mir mit Sicherheit den letzten erbärmlichen Funken an biblischem Glauben nehmen.
Schnell kam ich zu der Überzeugung, dass mir eine innere Fessel angelegt worden war. Ich schaffte es einfach nicht, über die Wesenheiten in meinen Träumen zu reden. Selbst der kleinste Versuch schürte eine unsägliche Furcht in mir, die zu Schweißausbrüchen und zitternden Anfällen führte. Und eine derart unmenschliche Angst konnte ich mir letzten Endes nur durch einen Fluch jener Kreaturen selbst erklären, welche die dunkle Seite meines Verstandes bewohnten.
Alles was ich Sarah jemals erzählen konnte, war, dass ich von einem schrecklichen Ort träumte, an dem es keine Menschen gab.
Mehr bekam ich nicht über meine Lippen, und ich weiß bis heute nicht, ob Sarah mir diese Worte je geglaubt hatte.
Aber mehr hatten Sie nie zugelassen.
Heute erzähle ich Sarah nichts mehr von meinen Träumen. Dafür, dass sie mich und meine Eigenheiten über vierzig Jahre geduldig ertragen hat, denke ich, dass sie nun, in den letzten Zügen ihres Lebens, ein klein wenig Ruhe vor meinen Psychosen verdient.
So bleibe ich seit fast zwei Jahren alleine mit jenen Träumen.
Bislang bin ich ganz gut damit klargekommen. Von einigen extremen Anfällen in der Nacht abgesehen, war ich bisher stolz darauf gewesen, meine traumatischen Gedankenspiele auch ohne die Hilfe anderer im Griff zu haben.
Doch seit einigen Tagen ist alles anders.
Während ich über die Ereignisse der vergangenen Woche nachdenke, bereite ich mit automatisierten Bewegungen Sarahs Abendessen zu.
Warmer Haferschleim, eine zerdrückte Banane und eine Kanne mit Tee.
Viel mehr habe ich nicht in der Speisekammer gefunden.
Damals, in den Tagen, als Sarah und ich unser kleines Haus auf dem Hügel noch mit Lachen und allerlei unsinnigen Scherzen erfüllt hatten, gehörte der abendliche Tee zum festen Bestandteil unseres Lebens. Als wir das Haus mit seinen niedrigen Räumen und rustikalen Klinkersteinen zu Beginn unserer Ehe gebaut hatten, war es Sarah gewesen, die das dringende Bedürfnis nach einem offenen Kamin im Wohnzimmer äußerte. Und als verliebter, junger Romeo las man seiner Julia natürlich jeden Wunsch von den Lippen ab.
So hatten wir in all den Jahren fast jeden Abend in kleinen, robusten Korbsesseln vor dem wärmenden Feuer verbracht. Während wir unseren Tee tranken, uns gegenseitig über den Rand der Tasse ansahen und ein Lächeln nicht unterdrücken konnten, hatte das Knistern und Knacken der Holzscheite im Kamin eine ganz eigene, melancholische Symphonie für uns gespielt.
Wir hatten einfach nur dagesessen, im Hintergrund leise Musik, und über das geredet, was uns der vergangene Tag beschert hatte.
Die Nähe meiner Sarah zu spüren, ihre ruhige Stimme zu hören und ihr beim Reden zuzusehen, wie sich immer wieder ein Lächeln zwischen ihre Worte stahl und ihre weißen Zähne aufblitzten, war alles, was sich ein glücklicher Mann wünschen konnte.
Ich steige die Treppe ins Schlafzimmer hinauf. Das Geschirr klappert leise auf dem Tablett, und ich bleibe stehen.
Wieder einmal trifft mich die allgegenwärtige Stille wie ein Schlag. Fast erscheint es mir, als hätte ich mich in einen tiefschwarzen Mantel gehüllt, der alle Geräusche der Welt von mir fernhält.
Das Tablett auf einer Hand balancierend, blicke ich mich im Dämmerlicht des Flurs um. Lediglich einige Kerzen stehen auf dem kleinen Schränkchen,