Graues Land. Michael Dissieux
Durch den Spalt der geschlossenen Holzläden vor dem Fenster kann ich einen letzten, dunkelgrauen Streifen Tageslicht erkennen. Als versuche eine brackige Masse durch die Ritzen ins Zimmer zu sickern. Auf einem Tisch in der Ecke brennt eine einzelne Kerze. Deren Flamme beginnt hektisch zu tanzen, als die stille Luft des Raumes von mir durcheinandergewirbelt wird.
Plötzlich erwachen die starren Schatten an den Wänden zu verzweifeltem Leben. Der alte Eichenschrank, den wir uns nur ein paar Tage nach unserer Hochzeit gekauft hatten. Der kleine Schminktisch, den Sarah noch bis vor einigen Jahren benutzt hatte, um sich hübsch zu machen. Oder aber die massigen Pfosten des Bettes, die wie stumme Wächter an der Wand emporragen, und die das Liebste beherbergen, das ich je im Leben besessen habe.
Ich stelle die Petroleumlampe neben die Kerze und blicke zum Bett hinüber.
Von irgendwo draußen dringt langgezogenes Heulen in den Raum.
Mein Blick wandert kurz zu dem finsteren Spalt zwischen den Holzläden. Dann wieder zum Bett.
Alles, was ich erkennen kann, ist die dicke Federdecke, über deren Muster die Schatten der Kerze und der Lampe huschen.
Als ich näher trete, bemerke ich, wie sich die Decke kaum merklich hebt und senkt.
Erleichtert atme ich aus und registriere erst jetzt, dass ich die ganze Zeit, seit ich den Raum betreten habe, die Luft angehalten habe.
Ein kurzer Blick zur Decke, ein ebenso kurzes und schlichtes `Danke´ an jenes Wesen, das andere als Gott bezeichnen.
Die Federn des alten Bettes quietschen leise, als ich mich neben Sarah setze. Das Tablett lege ich auf meinen Knien ab und halte es mit einer Hand fest, während ich mit der anderen zögerlich nach Sarahs blassem Gesicht taste.
Sie blickt in meine Richtung. Das macht sie immer, wenn ich mich neben sie setze. Aber manchmal bin ich mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt wahrnimmt. Vielleicht ist es auch nur Zufall, dass ihr Kopf auf diese Seite geneigt ist.
Ihre Augen blicken ausdruckslos, die Pupillen sind mit einer milchigen Schicht überzogen. Früher einmal waren sie von einem bestechenden Blau gewesen.
Oftmals liest man in romantischen Romanen von tiefen Seen, die man in den Augen wunderschöner Frauen finden kann. Und dass man auf ewig darin versinken könnte, hinabtauchen bis auf den Grund des Paradieses.
Bei Sarah waren diese Worte keine leeren Phrasen gewesen. Ihre Augen hatten geleuchtet und wurden von einem kindlichen, neugierigen Leben beseelt. Wenn sie einen angeblickt hatte, war die Welt um einen herum zur Bedeutungslosigkeit degradiert worden. So klischeehaft sich das auch anhören mag. Ein Blick in dieses unergründliche Blau - in diese tiefen, geheimnisvollen Seen - und man war nur noch von dem Wunsch besessen, absolut alles für den Besitzer dieser herrlichen, kraftvollen Augen zu tun.
Heute ist der Spiegel ihrer Seele zerbrochen. Über die blaue See hat sich immerwährender, dichter Nebel gelegt, der jede Farbe in tristes Grau verwandelt.
Ihr Mund ist offen, ihre Lippen rissig und grau. Saurer Atem, wie man ihn vom morgendlichen Erwachen her kennt, schlägt mir in schwachen Zügen entgegen.
Ich streiche durch ihr Haar, das ihr zerzaust in die Stirn hängt.
Wann immer es geht, versuche ich ihr das Haar zu kämmen. Doch meistens schaffe ich es nur, sie zu waschen und umzuziehen, bevor sie wieder ihre Augen schließt und einschläft.
Mit zärtlichen Bewegungen versuche ich, ihre grauen Locken zu ordnen. Die Haut ihrer Stirn ist trocken und schuppig. Um ihre Augen haben sich tiefe Ringe gebildet.
»Sarah«, flüstere ich leise und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Der Gestank von Schweiß und frischen Fäkalien steigt mir in die Nase.
»Liebling. Ich habe dein Essen mitgebracht.«
Ich drehe mich in ihre Richtung, so dass das Tablett zwischen uns auf meinen Knien balanciert.
»Und frischen Tee.«
Die Erinnerung, die der Geruch der Teekanne mit sich trägt, tut immer noch so weh wie am ersten Tag. Eine einzelne Träne rollt über meine Wange.
»Komm, Liebling. Lass uns essen, bevor es kalt wird.«
Der Haferschleim ist schon fast abgekühlt. Ich lege meine linke Hand unter ihren Kopf und stütze Sarah, während ich mit der rechten den Löffel in den Haferschleim tauche.
Ein leises Stöhnen tröpfelt zwischen ihren spröden Lippen hervor, als ich den Löffel in ihrem Mund verschwinden lasse.
Ob sie mich wahrnimmt, weiß ich nicht. Ebenso wenig, ob sie spürt, dass sie etwas zu Essen bekommt.
Manchmal bewegen sich ihre Pupillen unter der milchigen Schicht ihrer Augen.
Doch meistens starren sie mich nur aschenfarbig an.
Während ich Sarah füttere, beginne ich erstickt `Blue Spanish Eyes´ zu summen.
Unser beider Lieblingslied.
Der graue Spalt zwischen den Fensterläden wird zu tiefem Schwarz. Irgendwann setze ich mich in den großen Korbsessel, den ich vor das Fenster gestellt habe und der so ausgerichtet ist, dass ich Sarah betrachten kann.
Sie ist eingeschlafen, nachdem ich ihre Windeln gewechselt habe.
Das Tablett mit dem leeren Teller und der noch halb vollen Teetasse steht auf dem Nachttisch neben dem Bett.
Meine Gedanken schweifen ab. Während ich auf das bleiche Oval von Sarahs Gesicht starre, denke ich an Barry. Wie mag es ihm wohl ergangen sein? Und was ist mit Ashley? Was mit Demi? Die nächste Fragen, die unweigerlich folgen, sind, ob unser Sohn und seine Familie überhaupt noch am Leben sind. Ob es ihnen gut geht, und falls ja, was sie wohl gerade tun.
Wie immer, wenn diese Fragen wie ein Rudel gefräßiger Raubtiere über mich herfallen, spüre ich eine schmerzhafte Beklemmung in der Brust, und das Atmen fällt mir schwer. Wie oft habe ich Barrys Nummer gewählt, als das Telefon noch funktionierte? Und wie oft habe ich der anonymen Computerstimme gelauscht, die mir emotionslos mitteilte, dass der Gesprächspartner vorübergehend nicht erreichbar sei. Ich konzentriere mich wieder auf Sarah und lausche ihrem zufriedenen Brummen und gelegentlichen tiefen Luftholen. Dann schließe ich selbst die Augen, und die gespenstische Stille dieser toten Welt nimmt mich mit in einen unruhigen Schlaf.
`Ich muss die Vorräte auffüllen´, denke ich noch.
Dann schlafe ich ein.
Sarah hat mich zu einem leidenschaftlichen Schwimmer gemacht. Schon als ich sie das erste Mal im Haus meines Bruders gesehen hatte, war ich in das tiefe Blau ihrer Augen eingetaucht.
Und auch heute Abend existiert nur diese berauschende Farbe in meiner kleinen Welt.
Während ich neben ihr hergehe, werfe ich immer wieder verstohlene Blicke in ihre Richtung. Sie hält den ihren gesenkt, so dass ihr Gesicht in den Schatten ihres langen Haares verborgen ist.
Auf diese Weise kann sie mich nicht dabei ertappen, wie ich sie immer wieder ansehe.
Selbst ihr Schatten, der von den Straßenlaternen auf das Pflaster geworfen und verzerrt wird, hat etwas Sinnliches.
Die Art und Weise, wie unsere beiden Schatten miteinander auf dem Grau der Straße harmonieren, gefällt mir. Irgendwie habe ich das unbestimmte Gefühl, dass die beiden Konturen zueinander gehören. Wir werden beide in die Länge gezogen, wenn die Laterne hinter uns zurückbleibt, und verschwinden kurz, wenn die nächste Lampe auftaucht.
Ich bin versucht, unsere Schatten miteinander verschmelzen zu lassen, indem ich ihre Hand nehme. Doch der Gedanke ist absurd.
Dieser Abend ist unser erster von unzähligen, die noch folgen sollten.
So