Ein Krokodil für Zagreb. Marina Achenbach

Ein Krokodil für Zagreb - Marina Achenbach


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Seka. Ihr eingeborenes Muster ist Selbstbeherrschung. Gefühlsausbrüche sind verpönt, das ist als Gesetz tief in ihr verankert. Und obwohl sie seit langem weiß, dass es Dressur ist, hat sie diese Haltung doch zu ihrer eigenen gemacht. Oh diese Not. Sie hebt den Bann der Diskretion auf, zieht ihren Verlobten ins Vertrauen.

      Für sie ist Fred die Verkörperung einer sanften, arglosen Güte. Er ist vier Jahre älter als sie, übergroß, linkisch und liebt sie, seit er sie als Dreizehnjährige sah. Da war ihre Familie aus Sarajevo nach Zagreb gezogen. Er begleitet sie als treuer, ihr ergebener, kluger Freund. Hin und wieder sagt er: »Ich weiß, ich bin langweilig.« Sie winkt ab, viel später tut es ihr leid, dass sie ihm nie widersprochen und den Satz geantwortet hat, den er sich wünschte. Fred sieht, wie sich Seka von ihm entfernt. Eher als sie begreift er, dass es nicht mehr aufzuhalten ist.

      Ado und die Mutter kehren wie angekündigt nach 14 Tagen aus Makarska, vom Familiensitz an der Adria, zurück. Seka hat sich entschlossen zu handeln. Im ersten günstigen Moment sagt sie zu Ado: »Ich muss Sie sprechen. Allein. Um 18 Uhr im Café Gundulić.«

      Dort im großen Café am zentralen Platz der Stadt spricht sie es aus: »Ich bin in Sie verliebt.«

      Er weiß keine Antwort, erbittet sich Bedenkzeit und schlägt für das Wochenende einen Spaziergang vor, um sich auszusprechen. Sie gehen hinaus in die ungezähmten Hügel, die Zagreb umgeben. Babu, der Boxer, rennt voraus. »Sagen wir uns Du, wie Freunde«, beginnen sie.

      4

      Links sitzen meine Freunde. Ich drehe den Kopf zu ihnen. Sie lächeln mir zu. Wovon habe ich eben gesprochen? Von Ado und Seka? Langsam drehe ich den Kopf wieder in den Raum, viele mir aufmerksam zugewandte Gesichter. Da höre ich mich sagen: »Jetzt habe ich einen Filmriss.« Von der Seite eine Stimme: »Sollen wir unterbrechen?« Für Sekunden frage ich mich: Ist das nicht unmöglich? Aber schon geniert mich nichts mehr. Wie einen Hauch fühle ich Paco an der Seite und mich am Arm hinausführen, durch den ganzen Raum voll gelb leuchtendem Sonnenlicht. Ich verlasse sie einfach alle. Draußen im kleinen Hof unter Bäumen noch helleres, zwischen den Blättern flimmerndes Nachmittagslicht. Und eine Bank, auf ihr liege ich, hoch über mir ragt eine Gestalt auf, hinter ihr blauer Himmel, sie fragt etwas, ich weiß nichts zu antworten, aber grüble nicht. Ein warmer Körper, an dem mein Kopf lehnt, Hände auf meinen Knöcheln. Mit großen Schritten nähern sich Männer, ihre weißen Turnschuhe knirschen im Kies. Zwei Augen dicht über meinen. »Schau mich an, Dunja, nicht die Augen schließen, nicht wegsinken, Dunja, schau mich an.«

      5

      Der Riss. Neben mir liegt ein Mädchen aus Afrika, ihre große Familie sitzt um das Bett. Sie beten und reden in ihrer weichen Sprache und erklären mir behutsam: Es ist hier die Neurologische Abteilung im Virchow Klinikum.

      Das Mädchen kommt aus dem Kongo, ihr Vater war Präsident einer Region. Seine Gegner haben die Familie überfallen, die dicke Mutter hat sich in einem rasenden Furor den Angreifern entgegengeworfen und die Kinder gerettet. Der Präsident ist mit seiner Familie geflüchtet, bei der Ankunft am Flughafen Orly ist die Tochter ins Koma gefallen. Ihr sind Rückfälle geblieben.

      Wie die Zeit hier nichtig verrinnt – Blutabnahmen – in Röhren geschoben – Knistern und Brummen im Schädel. Die liebe Familie W’Otepa mit ihren Gebeten.

      Andreas öffnet die Tür zum Klinikzimmer, das erschrockene Bruder-Gesicht, da ist er zugleich Ado und Seka, über die ich im Erzähl-Café gesprochen hatte.

      Was hat mich stocken lassen? Kein Hirnschlag, dieser Verdacht über Stunden. Der Körper hat das Denken gekappt und mich in den Dämmerzustand versetzt, bis auf wenige Erinnerungsinseln. Trage ich unerkannt etwas in mir? Am Meer könnte ich es finden, mit dem Finger in den Sand schreiben, der Wind nimmt’s mit. Ich glätte die Stelle und schreibe immer weiter. Was ich schreibe, fliegt weg. Doch es soll unversehens zu mir zurückkommen, auf fast durchsichtigen Blättern, noch lesbar.

      6

      In der U-Bahn auf der Bank gegenüber redet ein achtjähriger Knabe auf seine Mutter ein. Sie sprechen Deutsch, aber er will ein Fremder sein. Wie einst ich. »Das hier ist nicht dein Land, nicht wahr, Mama? Wo die Adler sind, das ist dein Land!« Ein dunkles Wolltuch liegt locker um ihren Kopf, sie antwortet ihm leise. Er lässt seine Stimme kräftig tönen, damit die Umsitzenden ihn als Fremden erkennen. »Die Großmutter hat ein Steinhaus für uns gebaut, da war ich noch ganz klein, nicht wahr, Mama?!« Und dann nennt er das Land: »Im Libán wird es nicht kalt, nicht Mama? Im Libán ist kein Winter.« Sie murmelt etwas. »Im Libán gibt es nur manchmal Regen.« Unendlich verliebt spricht er den Namen aus.

      Den Geschichten der Eltern glaubt man ganz und gar und füllt sie mit den eigenen jubelnden und bedrängenden Gefühlen. Er sieht den Adler Kreise ziehen und sieht die Großmutter mit heißen Händen Steine zu einem Haus aufschichten. Sie kann es, sie kennt Geheimnisse, denn sie ist von woanders.

      Seka erzählt ihr Leben lang Geschichten, wir hören süchtig zu, obwohl wir sie verdächtigen, dass sie übertreibt. Aber wir spornen sie an mit einem geflüsterten: »Und dann?« Sie rollt ihren Erzählfaden auf, lässt ihn schwirren und kreisen.

      Wenn wir anfangen, sie nach Umständen und Gründen zu fragen, versickert ihre Erzähllust. Ein geordnetes Berichten langweilt sie. Sie steht auf und kocht sich einen Tee. Als wollte sie uns sagen: Wenn ihr mir nicht glaubt, finde ich es traurig, aber auch euch, meinen Lieblingen, wird es nicht gelingen, mich zu zähmen.

      7

      Der Vater durchtrennt ihre Nabelschnur. Am 17. April 1917, im Revolutionsjahr. Auch Bosnien bäumt sich auf in diesem dritten Kriegsjahr. Vorbei am Haus der Majstorović’s ziehen Bauern hinab ins Zentrum der Stadt, aus ihren Bergen, von denen aus sie die spitzen Minarette und die schweren Glockentürme der Kirchen von Sarajevo sehen. Eine dunkle, vorandrängende Menge nimmt die Straßenbreite ganz ein. Dem Strom drängt sich der Vater entgegen, der aus seiner Kanzlei kommt, er teilt ihn und schaut in die Gesichter, vielleicht erkennt er einen seiner bäuerlichen Klienten. Erreicht den Nebeneingang seines Gartens, lehnt sich ans rostige Tor, das unbenutzte. Oben im Fenster beobachtet ihn seine schwangere Frau, und plötzlich sieht sie, wie er mit dem ganzen Gittertor nach hinten stürzt und hilflos auf dem Rücken liegt. Die hinabziehende Menge stockt, verknäult sich, was ist passiert, etwa Gewalt gegen ihn, den beliebten Rechtsanwalt? In diesem Augenblick spürt die Mutter, dass das Baby aus ihrem Leib gleitet. Es stürzt sich wie in einem großen Ausatmen hinaus.

      Die Mutter kauert sich auf den Teppich, ruft nach Tereza, ruft die anderen Namen der im Haus Beschäftigten, niemand hört sie. Alle sind von der nie gesehenen Protestflut aus den Bergen aufgesogen. Die Mutter begreift, dass sie allein im Haus ist, sie zieht das Neugeborene in seinem Schleim auf ihren Bauch, reicht mit einem Arm bis zu einem Plaid, holt es herunter und hält damit das Kind und sich warm. Gefasst, wie es ihre Art ist, wartet sie. Es ist der siebte Monat der Schwangerschaft und ihr drittes Kind.

      So findet sie der Vater. Er durchschneidet die Nabelschnur, nimmt die winzige Tochter mit den feinen Knöchelchen in seine beiden Hände, ihn überwältigt eine ungeahnte Zärtlichkeit.

      8

      Sie geht die Treppen hinunter, Schritt für Schritt, es ist still im Haus, das Treppengeländer glänzt dunkel. Sie drückt die Tür zur Küche auf. Ein Sonnenstreifen trifft sie in die Augen. Die Köchin Tereza dreht sich zu ihr um. Sekas Augen leuchten dunkelgelb, mit verstreuten grünen und schwarzen Punkten. Gibt es ein Tier, das solche Augen hat? Tereza wartet, bis sich die eigenartige Tochter des Hauses auf das breite Fensterbrett hockt und ihr geduldig beim Kochen zuschaut, obwohl sie fast nichts isst und Speisen ihr gleichgültig sind. Sie weiß, dass die Mutter diese Küchenbesuche nicht schätzt, dass ihr auch die knochigen Knie ihres Kindes missfallen, die Blässe und die unbewegte Miene, die sie für aufsässig hält. Tereza weiß alles im Haus, unausgesprochen ist sie die Vertraute ihrer Patronin. Doch wenn es um die kleine Seka geht, fügt sie sich nicht ihrer herrischen Laune.

      Tereza knetet einen weißen Teig, sie drückt ihn rhythmisch, lässt das Gewicht ihres Rückens, ihrer


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