Ein Krokodil für Zagreb. Marina Achenbach

Ein Krokodil für Zagreb - Marina Achenbach


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hat auch uns traurig gemacht.

      – Meine Ehe mit Lela war etwas anderes als alles sonst. Lela liebte im Grunde ihren Bruder Sascha, ich liebte beide, und sie liebten ihren wunderbaren Vater. Ich wollte zu dieser verschworenen Gemeinschaft gehören – sie Flüchtlinge aus Russland, ich ein Geflohener aus Deutschland. Zwei Jahre lang war ich ein Teil von ihnen, doch als Lela krank wurde, schlossen sie mich wieder aus, noch bevor sie starb.

      – Da war auch Sekas Mutter. Du kamst doch gerade zurück von einer Reise mit ihr!

      – Ihre Mutter war eine charmante Frau, mit einem bestechend klaren Verstand. Sie war älter als ich und doch verführerisch für mich, da siehst du, dass es mir nicht auf das Erobern einer jungen Frau ankam. Aber – so unerwartet und leuchtend zeigte sich Sekas ungestüme Liebe, eine ungeahnte Dimension im Vergleich mit dem abgemessenen Gefühl der Dame, das ich gerade erlebt hatte. Sekas unvermutete Kühnheit kam wie eine Erscheinung an den Tag. Ich hatte sie als nachdenkliche junge Journalistin kennengelernt. Beim ersten Treffen sah ich: Ein Mensch an seinem guten Anfang. Da war kein Gedanke an Verführung. Ich habe mich von ihr verführen lassen. Und das brachte mir ein Glück, das ich in jener Zeit ausgeschlossen hätte.

      15

      An der Kante des Felsens in Dalmatien steht ein junger Mann, einer, der eben noch ein Junge gewesen ist. Tief unten das Meer, glatt, türkis. Auf Felsvorsprüngen hocken andere Jungen, er steht oben wie ein Pfeil im gespannten Bogen, springt ab, die Füße nach unten, durch eine lange Strecke Luft, dann taucht er sprudelnd ein, sinkt tief, steigt wieder auf, streckt die Arme nach hinten, schaukelt auf dem Wasser, das ihn nun trägt und umspült. Die Zuschauer nicken mit den Köpfen, der Sprung war gut. Ado sieht, dass eine schmale Frau mit braunen Locken und Sommersprossen von einer Balustrade aus alles beobachtet, und er nimmt auf, wie sich der Blick des Schwimmers mit ihrem trifft, trotz ihrer Entfernung, weil sie nirgendwo anders hinschauen als aufeinander. Ein Geheimnis, das ihn anzieht und lockt. Die beiden sind die russischen Geschwister Lela und Sascha.

      16

      Im Klinikhof wächst ein Quittenbaum, dort, wo die Ziegelmauern die frühe Wärme halten, er blüht schon im April, seine Zweige stoßen leicht an die Scheiben. Seka sieht am Morgen die weißen Blüten vor dem hellblauen Zagreber Himmel schwanken, sie liegt in blendenden Laken, das Kind neben ihr, der kleine Kopf mit einem schwarzen Haarschopf in ihrer Achselhöhle. Ein Mädchen, hatte ihr die Hebamme zugerufen, und Seka hatte die Abendglocken läuten gehört, nicht endend zum Gründonnerstag. Obwohl ihr die Frömmigkeit abhanden gekommen ist, trägt sie die biblischen Bilder aus ihren klösterlichen Schuljahren in Sarajevo in sich, sieht den schönen Tisch voller Schüsseln und Krüge, um den Jesus und die Jünger sitzen, und sie nimmt es als ein Zeichen, dass sie ihr Kind zum mythischen Abendmahl auf die Welt gebracht hat.

      Jetzt am Morgen steht Ado am Bettende, streichelt ihre Füße, lässt keinen Blick vom atmenden Wesen neben ihr. Mit ihm ist sie nun endgültig verbunden, mit dem Heimatlosen, dem nicht Vorhergesehenen, nicht Erwarteten, dem Nicht-ganz-Begriffenen. Und Ado sieht sie so jung und stark, sie liegt nach den stundenlangen Wehen gelassen im frühen Licht vor ihm. Er öffnet das Fenster, Blütenblätter treiben herein. Quittenblüten, Dunja-Blüten. »Geben wir ihr doch als zweiten Namen Dunja, die Quitte, die zu ihrer Geburt blüht.«

      Als Ado am Abend aus der Stadt zu Seka kommt, ist er verfinstert. An diesem Karfreitag hat Mussolini die italienische Flotte über die Adria geschickt, um Albanien zu unterwerfen. Wieder ein drohendes Vorzeichen des großen Kriegs, auf den die Faschisten zusteuern. Die Brände flackern schon an weit verstreuten Orten, nun in Jugoslawiens Nachbarland. Ado und Seka geben ihrem Kind noch einen dritten Namen, Irena, Frieden.

      17

      Zu Hause erwartet eine Kinderfrau sie und ihr Kind. Frau Danica, alle nennen sie bei ihrem Vornamen, gilt in Zagreb als modern und aufgeklärt, man wirbt um sie, sie kann wählen, in welches Haus sie geht. Die neugeborene Tochter des Deutschen und der Bosnierin will sie aufziehen, dafür hat Sekas Mutter sie engagiert, in Absprache mit Ado, als Überraschung für Seka. Danica handelt die Zeiten aus, in denen die Aufsicht über das Kind bei ihr liegt, in diesen Stunden darf sie bestimmen. Insgeheim verachtet sie die jungen Mütter in ihrem unberechenbaren Schlingern zwischen Verzärtelung und Vernachlässigung. Sie glaubt an die Prägung durch Gleichmaß und Ordnung im ersten Lebensjahr, nimmt Seka das Kind nach dem Stillen aus dem Arm und legt es zum Schlafen. »Danica ist die Beste, es ist ein Glück, dass du sie hast, begreif das«, redet die Mutter auf die gekränkte Seka ein. Ado ist von ihr beeindruckt, eine besonnene Frau. Am Mittagstisch, zu dem sich auch die beiden deutschen Freunde Dr. Klapper und Bernard Guillemin einfinden, mischt sie sich nur selten ins Gespräch und verabschiedet sich nach dem Dessert. Seka ist erleichtert, als ginge ihr Atem freier.

      18

      Mit einem glänzend schwarzen Kinderwagen unter Arkaden im Zagreber Regen, Seka und ihre Freundinnen in schmalen Kostümen, ihre Hüte und die Hüte der Männer mit weich geschwungenen Krempen. An der Adria in vergnügter Freundesgruppe, braungebrannte Schultern, Wind im Haar, drei Mütter mit weißblonden kleinen Mädchen auf den Knien, die in die Sonne blinzeln. Sekas Mutter finanziert ihr Leben. Eine geschenkte Idylle, drei, vier Jahre lang. Ein unangemessenes Glück – so nah am Krieg. Ado und seine beiden Freunde Klapper und Guillemin, die ohne Arbeitserlaubnis mit befristeter Duldung in Zagreb überleben, nehmen das Geschenk an, mit einem täglichen Staunen über diese glückliche Wendung und über die Freude, die sich jeden Moment verflüchtigen kann.

      Ado beobachtet mit Hingabe, wie das Kind die Welt entdeckt und wie sich die Welt in ihm entdeckt. Nur keinen Moment davon versäumen. Er öffnet morgens die Haustür, draußen ist frischer Schnee, dicht, weiß, die Sonne glitzert auf ihm. Der Himmel ist hellblau. Die zwei Farben, weiß und blau, sind groß, von nichts beeinträchtigt. Und Ado freut sich unbändig über den Schnee. Seka steht noch auf den Eingangsstufen und lächelt zu uns herunter. Ado drückt mit seinen warmen Händen den Schnee zu einem hohen Kegel zusammen und sucht ein wenig theatralisch nach etwas. Er findet eine rostige Konservendose und setzt sie auf die Spitze des Schneekegels.

      »Das ist der Kopf«, sagt er.

      Der Schneemann wird mir nicht ganz verständlich, aber wir drei sind so leicht und froh, etwas Wundersames berührt uns. Solche frühen Erinnerungen hat Virginia Woolf Euphorie, Entzücken genannt, sogar Passion, aber was wirklich in diesen Momenten geschieht, hält sie für unerfindlich, es übersteige uns. Der Moment im Schnee ist ohne ein Vorher und ein Nachher in mir, unser Jubel, das Weiß und Blau, alles fast aufgelöst im Licht.

      Zum Abschiedsfest für ein deutsches Flüchtlingspaar, dem das überwältigende Glück zufiel, mit Visa für die USA Europa verlassen zu können, treffen sich die Freunde. Sie albern, spielen die Münchner Konferenz nach. Ado ist Mussolini, hat sich eine Pfanne über den Kopf gestülpt, den er zwischen die Schultern zieht, so dass er halslos, bullig, mit geblähten Nasenflügeln in die Runde guckt. Den Arm hat er einem Hitler auf die Schulter gelegt, einem für diese Rolle viel zu hochgewachsenen Mann mit Bärtchen und Militärschärpe. Eine Psychiaterin mit Zigarre und Melone mimt den englischen Premier Chamberlain, und ein Chemiker gibt mit Stehkragen und Fliege den französischen Ministerpräsidenten Daladier. Sie spielen ihre Verachtung für das halbherzige Kräftemessen in München, dem die Welt voller Bangen zugesehen hatte und das zu Hitlers Gunsten ausgegangen war.

      Heute feiern sie die rettende Abreise des deutschen Flüchtlingspaars in der großen Wohnung der Betlheims, des Psychoanalytikers und seiner Frau, einer Bauhaus-Künstlerin aus Deutschland. Das letzte Fest mit allen Freunden, das letzte Schiff nach Amerika, vieles geschieht zum letzten Mal. Seka gelingt es, ein brasilianisches Visum für sich mit Kind zu bekommen, aber ohne den deutschen Ehemann. Sie solle vorausfahren und ihn von dort aus nachholen, wird ihr geraten. Sie fürchtet das Risiko und lehnt ab. Noch Jahrzehnte später horcht sie ihrem eigenen Satz von damals nach: »Wir bleiben zusammen.«

      19

      Die Wehrmacht marschiert in Kolonnen ohne Widerstand in Zagreb ein und nimmt Quartier in den Kasernen vor der Stadt. Über Nacht sind die kroatischen Ustaschas da. Straßennachbarn


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