Maria Rosenblatt. Corinna T. Sievers
ihre Anmut. Wieder ruhte Marias Blick auf dem fremden Mantel, auch das verstörte Detlef, er hob den Arm, vollzog einige alberne Pantomimen in der Absicht, den leeren Becher in den Papierkorb zu werfen, Maria ungeduldig: »Sie werden Fehler machen, irgendwann Bilder auf ein Vertragshandy schicken oder auf ihrem PC abspeichern«, er solle jetzt endlich werfen, es gehe weiter.
Detlef warf und traf daneben, bückte sich und las den Becher auf, Maria: Bitte, sie habe wirklich keine Zeit für seine Albernheiten.
Sie zog ihn hinter sich her auf den Flur, rotes Linoleum, das pfennigrunde Dellen aufweist, Hunderte oder Tausende, die sich zur Mitte hin zu einer Fläche vereinigen, unübersehbar Spuren ihrer hohen Absätze. Die Verwaltung hatte sich beschwert, eine missgünstige Sachbearbeiterin in Slippern tauchte persönlich bei Maria auf. Sie nahm den Schaden in Augenschein, Maria auf ihren Pfennigabsätzen konnte nicht leugnen. Alsdann: Man müsse sich Gedanken über die Qualität des Linoleums machen, und ob sie vielleicht Birkenstocks tragen solle, sie lasse sich wegen ihres weiblichen Schuhwerks nicht diskriminieren, sie erwäge, sich an die Gleichstellungsbeauftragte des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements zu wenden. Fortan herrschte Ruhe.
Jetzt blieb Maria stehen. Detlef prallte gegen sie, bat um Verzeihung. Maria winkte ab, deutete mit der Hand auf die Tür zum Damen-WC, Detlef solle nicht auf sie warten, die anderen seien bereits im Besprechungsraum versammelt. Detlef hätte es vorgezogen, vor dem WC stehen zu bleiben, sie waren sich einmal da drinnen begegnet, er hatte es gewagt, ihr zu folgen, sie saß auf der Toilettenbrille: »Sieh mir zu«, spreizte die Schenkel, befriedigte sich mit ihren flinken, langen Fingern, dabei stieß sie mit der Fußspitze an seinen steifen Schwanz, drückte Detlef von sich und wies ihn aus der Kabine. Die Begebenheit lag lange zurück, Detlef erinnerte jedes Detail, die Farbe ihres Höschens und des Nagellacks an ihren Zehen, er starrte auf die Tür der Damentoilette.
Maria auf der anderen Seite vor dem Spiegel, das Licht war grell und fiel von oben, es formte eine Landschaft auf ihrem Gesicht, Fältchen wurden zu Tälern, Poren zu Kratern, eigentlich ist sie stolz auf ihre Haut, den zarten, blassen Teint, ihre Sommersprossen, im Sommer trägt sie Hut und hochgeschlossene Blusen, wie ein Bild von Edouard Manet. Sie würde einen Termin bei der Dermatologin vereinbaren, botoxen, was für ein Wort. Die Ärztin sagt, man könne nicht früh genug damit beginnen. Es ist nicht das erste Mal, die letzte Injektion liegt einige Monate zurück, Marias Körper hat das Gift abgebaut und verstoffwechselt. Das Honorar: eintausendzweihundert Franken. Dreimal im Jahr, das macht dreitausendsechshundert. Hannes weiß nichts davon, vom Botox ebenso wenig wie von dem Eingriff beim Venerologen, der ihre Krampfadern in Kurznarkose verödet hat, siebentausendsechshundert Franken. Für solche Fälle besitzt sie ein geheimes Konto.
Sie blickte auf die Uhr, die Besprechung lief seit fünfzehn Minuten, es war nicht einfach für Detlef, die unbeliebten Aufgaben zu verteilen: das Abklappern der Handyläden, die Befragung der Anwohner am Fundort, all das bei Minusgraden. Lieber hockten die Männer am Schreibtisch, tranken Kaffee, recherchierten, vorzugsweise im Netz. Nicht, dass Maria ihnen etwas unterstellen will, oder vielleicht doch. Sie hatte die interne Ermittlung beauftragt, die Festplatten aller Mitarbeiter zu überprüfen, jeder einzelne Rechner war an die Reihe gekommen, Roman hatte stundenlang auf youporn.com gesurft. Zur Rede gestellt, schob er fadenscheinige Beweggründe vor. Das hatte ihn die Beförderung gekostet.
Sie verließ das WC, eilte über den Flur zum Besprechungsraum. Die Männer erhoben sich gerade, nur Detlef saß noch da und machte sich Notizen. Vielleicht roch er Maria, ohne aufzublicken deutete er auf den Stuhl neben sich. Maria machte breitbeinig Halt, sie weiß, wie sie ihren Mann steht.
Detlef reichte ihr die Liste, Simon habe er für den Außendienst eingeteilt, es sei ihm am ehesten zuzumuten, sich den Arsch abzufrieren, Urs und Roman dürften Bürodienst leisten, Roman habe die höchste Medienkompetenz. Maria entfuhr ein Lacher, wieso sie ihn immer auslachen müsse, fragte Detlef, Roman sei doch wohl in der Lage, Bilder an Krankenhäuser, Tagesstätten, Kinderheime zu versenden, die Technische Abteilung bemühe sich derzeit, Hinweise auf den pornographischen Gegenstand zu retuschieren, hoffentlich würde ein Kinderarzt den Leberfleck an der Leiste eines Säuglings wiedererkennen, oder einen kleinen Blutschwamm.
Maria nickte, schön, ja, jetzt müssten sie hoffen, dass ihnen der Zufall zu Hilfe käme, sie selbst wolle sich ein paar Stunden zurückziehen, in die Thematik vertiefen, ein Gefühl entwickeln für die Methodik des Gegners. Detlef sollte so freundlich sein, ihr die anderen vom Leib zu halten und sich selbst auch, ja, das vor allem, damit sie irgendwann gegen neunzehn Uhr nach Haus kann.
Es wurde Viertel nach acht, ihr Nacken schmerzte, als sie zuhause eintraf, ihre Augen brannten, ihr Magen seit Stunden leer, ihr war das Hungergefühl abhanden gekommen. Gegen drei Uhr nachmittags hatte ihr Detlef eine Banane auf den Schreibtisch gelegt, bereits geschält, abgesehen davon war er alle zwei Stunden mit einem Becher Kaffee aufgekreuzt, ein stummer Diener, der keinen Dank erwartet und auch nicht erhält, oder, wenn doch, zu einem späteren und gänzlich unvermuteten Moment.
Maria hatte sich eine Akte nach der anderen bringen lassen, auf ihrem Schreibtisch gestapelt und mit Zorn gesichtet. In den vergangenen Jahren hatte es zahlreiche Fälle von Kinderpornographie gegeben, Einzeltäter waren in der Mehrheit, Banden seit der Jahrtausendwende eine Ausnahmeerscheinung. Die Bilder im Internet stammten aus Privathaushalten, meist entstanden ohne das Zutun von Frauen, sie wissen von nichts oder dulden das Handeln ihrer Männer, bei den Opfern sind Mädchen in der Überzahl.
Jetzt stand Maria in der Küchentür, an den Rahmen gelehnt, der aus dunkler Eiche und hundert Jahre alt war. Das Kindermädchen im Begriff zu gehen, Ende zwanzig, aus dem Tessin, die Haut straff, prall der Busen, es spricht Italienisch.
Die Kinder hockten am Küchentisch, es hatte Streit um die letzte Gewürzgurke gegeben, Maria setzte sich dazu, nahm kleine Hände in ihre, teilte die Gurke, schob eine Hälfte in jedes Mündchen. Ihr müsst nicht streiten, Kinder, ihr müsst euch liebhaben.
Da platzten sie los, bezichtigten einander des Mundraubes, Marias Gedanken wanderten ab, ihr müsst euch liebhaben, und was ist mit Hannes und ihr?
Schon war die Gurke vergessen, die Kinder lachten wieder. Wie schnell sie vergeben, dachte Maria und stand auf, ging zum Kühlschrank, vielleicht war etwas vom Mittag übrig, sie entdeckte ein Schälchen Risotto, stellte es in die Mikrowelle.
Ob sie fernsehen dürften? Heinrich war aufgesprungen, legte seinen Kopf auf ihren Bauch, bitte, Mama, Maria vergaß ihre Vorsätze: Na gut, sie brauchte einen Moment Ruhe, aber nur eine Viertelstunde, Kinder. Dann bringe ich euch ins Bett, versprich mir, Heinrich, dass du dich heute bemühst, schnell einzuschlafen.
Sie aß im Stehen, räumte die Teller in die Spülmaschine. Als sie sich aufrichten wollte, schien das unmöglich, plötzlich glaubte sie, vor Erschöpfung umzufallen. Sie gab sich einen Ruck, trat noch einmal an den Kühlschrank, fand einen angebrochenen Gewürztraminer, schenkte sich zwei Dezi ein, dann noch einmal zwei, setzte sich an den Tisch und begann, in der Zeitung zu blättern, exakt gefaltet und im rechten Winkel zu den Tischkanten liegen geblieben. Auf der vorletzten Seite die Sterbeanzeigen.
An Tagen wie diesem stellt sie sich vor, ihr Name stehe dort, oder gemeißelt in einen der Grabsteine beim Steinmetz an der Seestraße. Einmal hatte sie seinen Laden betreten und einen schwarzen Monolithen angezahlt. Der Steinmetz lächelte milde, als sie den Auftrag am nächsten Tag stornierte.
Abends im Bett hatte sie Hannes gefragt, ob es ihm auch so ginge, dass er die Toten um ihre Ruhe beneide; Hannes war Psychiater und kannte sich aus mit den Abgründen der Seele, aber nicht mit Marias. Er faltete die Hände im Schoß, setzte zu einem Vortrag an, die Suizidalität sei traumatisch bedingt, teilweise auch erblich. Sei ein Patient betroffen, versuche man es mit Psychotherapie und Psychopharmaka. Trotzdem komme es immer wieder vor, dass der Psychiater den Erkrankten verlöre. Maria warf ein, es sei doch wohl eher der Patient, der sich selbst verlöre. Hannes winkte ab, vor kurzem habe ein Depressiver seinem Leiden ein Ende gesetzt, indem er die ganze Packung Antidepressiva schluckte, er lachte laut, was selten vorkam.
Daraufhin hatte sie das Licht gelöscht und gegrübelt, welches ihr Trauma sein mochte, ihr fielen nur Männer ein, besonders derjenige, der neben ihr lag; am nächsten Tag ging sie zu ihrem