Maria Rosenblatt. Corinna T. Sievers

Maria Rosenblatt - Corinna T. Sievers


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Osten zum gepflasterten Vorplatz des Präsidiums, im Winter streut eine der Sekretärinnen Vogelfutter. Die Sonne schien.

      Der Staatsanwalt an einem Bistrotisch mit dem Rücken zum Fenster, vertieft in eine Akte, er sah erst auf, als Maria vor ihm stand.

      Sie schob einen Hocker heran, würde den Rock anheben müssen, um aufzusteigen, mindestens bis zur Mitte des Oberschenkels, entschied sich dagegen, sagte, eigentlich stehe sie auch lieber, da nahm Lorenzo ihren Ellenbogen und zog sie nach oben.

      Sie schwieg, blinzelte in die Sonne, der Staatsanwalt räusperte sich, es täte ihm leid wegen gestern. Er habe sich nicht vorgestellt, er blickte auf seine Hände.

      Maria ließ einige Sekunden verstreichen, dann: Er dürfe von ihr aus den Kaffee bezahlen.

      Lorenzo: Sie könne ja reden.

      Er lächelte und erhob sich, ging an die Essensausgabe, sein dunkelgrauer Anzug saß tadellos, war womöglich maßgeschneidert, außerdem hält er sich gerade, dachte Maria, was ihn noch größer erscheinen lässt, und das weiß er. Lorenzo stand unschlüssig vor der Vitrine, in Verhandlung mit der Köchin. Maria stützte das Kinn auf die Fäuste und betrachtete ihn: Alles, was er tut, scheint mit Inbrunst zu geschehen, und dass das bei Detlef auch so ist, und warum es bei dem einen selbstverständlich aussieht und bei dem anderen bemüht, da kehrte Lorenzo mit einem Tablett zurück, darauf zwei Tassen und ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Der Kuchen sei für Maria, die schob den Teller beiseite: Als Wiedergutmachung vollkommen ungeeignet, Frauen über vierzig essen keine Sahnetorte, sie warf einen Blick auf seine Hände, er sei wohl nicht verheiratet?

      Lorenzo streckte die Finger beider Hände aus, wie sie sehe: kein Ring. Und sie?

      Maria reckte das Kinn, es gebe einen Mann und zwei Kinder, sie sagte dieses munter und ihm ins Gesicht: Sie bereue nichts.

      Lorenzo nickte, sie müsse sich doch nicht rechtfertigen, er nahm den Streuer, türmte den Zucker in seinem Cappuccino zu einem Kegel, er habe schließlich auch Fehler, drei, um genau zu sein, er schlafe jeden Morgen bis um neun, zweitens Süßes, er deutete mit dem Kopf auf den Zucker, der den Milchschaum durchbrach und in der Tiefe der Tasse versank, und drittens, seine hellblauen Augen fixierten Maria, schöne Frauen.

      Marias Antwort kurz: Ja, fein, dann habe man das geklärt.

      Sie schob die Beine unter den Tisch, wusste nicht, wohin mit den Füßen, da war nur Lorenzos Hocker. Ob er jetzt zur Sache kommen könne, sie habe nicht viel Zeit, sie sei im Moment an einer neuen Sache, ihr Fuß führte eine unwillkürliche Bewegung aus.

      Lorenzo zuckte, beugte sich nach unten und rieb sich das Schienbein. Ja, er habe davon gehört, sie arbeite unter der Ägide von Staatsanwalt Gysin, dem Glückspilz, und das mache wirklich gar nichts mit dem Tritt eben.

      Maria schlug die Beine übereinander. Lorenzo: Man sagt, sie sei die Beste, er musterte sie, ob sie ihren Spitznamen kenne?

      Maria lächelte, natürlich, das Hirn, dann sagte sie kokett: »Nein, verraten Sie ihn mir.« Der Staatsanwalt rief: »Miss Marple!« Am Nebentisch drehten sich Köpfe, er wieder leiser: Das ist natürlich ungerecht, die ist ja viel älter.

      Maria rührte in ihrem Kaffee, er wisse doch, wie alt sie sei, der Schaum bespritzte Lorenzos Hand, die neben seiner Tasse abgelegt war, er habe doch ihre Personalakte gelesen. Sie sah ihm ins Gesicht. Spott war da keiner, eher eine Art von Rührung. Er hatte den Kopf schräg gelegt: Sie habe Recht, sein Blick fiel auf die Uhr, aber nun müsse er leider zur Verhandlung, damit erhob er sich, griff Marias Hand und zog.

      Maria: Es werde schon gehen, aber es ging nicht, ungelenk rutschte sie von ihrem Hocker, und als sie wieder aufrecht stand, gab er ihr einen Handkuss, es habe ihn sehr gefreut und auf gute Zusammenarbeit, er werde sich melden.

      Er gab ihre Hand frei, verbeugte sich nochmals und ging.

      Maria strich den Rock über die Knie und verfluchte ihre Erregung, es war doch nur ein Handkuss.

      Sie verschloss die Bürotür um 22.08 Uhr, auf ihrem Handy drei Nachrichten von Hannes: Wann sie käme? Ob sie überhaupt noch käme? Er werde das Kindermädchen bitten, über Nacht zu bleiben.

      Sie stand im Aufzug, ihr Gesicht im Spiegel blass, das morgendliche Make-up war verschwunden, zweimal heute hatte sie den heißen Kopf unter den Wasserhahn gehalten, waren das schon die Wechseljahre?

      Von einem Nachlassen ihrer Libido keine Spur. Als sie noch gevögelt hatte, zuerst mit anderen – für eine Frau ihrer Generation waren es viele gewesen, achtzehn oder zwanzig, dann nur noch mit Hannes, hatte sie sich im Griff gehabt. Doch seit mit Hannes nichts mehr lief, machte das Verlangen ihr zu schaffen, war jeder Mann ein potenzieller Geschlechtspartner. Vielleicht sollte sie die Pille nehmen, Hannes behauptet, die wirke regulierend. Vielleicht bekämen dann andere Dinge Bedeutung, sie dachte an die Kinder.

      Der Aufzug hielt, sie trat ins Foyer, zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung, die Ermittlungen waren ein Stück vorangekommen, sie wussten jetzt, dass die abgebildeten Finger zu ein und demselben Mann gehörten. Die Gerichtsmediziner konnten sagen, in welcher Reihenfolge, in welchem Abstand die Bilder aufgenommen worden waren, es gab einen mutmaßlichen Ablauf des Geschehens.

      Der Ring am Finger des Täters erwies sich als Hoffnungsträger, ein seltenes Stück, aufwendig gearbeitet, doch den Goldschmied zu ermitteln brauchte Zeit. Im ungünstigsten Fall stammte er nicht aus der Schweiz.

      Die Fotos der kleinen Leiber waren an alle Spitäler versandt. Es gab noch keine Rückmeldungen, obwohl bestimmte Merkmale einzigartig sein dürften, Nabelbrüche, Leberflecken, Blutschwämme, Maria war zuversichtlich, den Fall lösen zu können.

      Sie überquerte den schwach beleuchteten Parkplatz, ihre Zehen schmerzten, flache Schuhe wären vernünftiger, doch das war ausgeschlossen, acht Zentimeter Absatz war das Mindeste. Sie stieg in ihr kaltes Auto, Hannes hatte ihr zu erklären versucht, wie man es fertigbringt, die Sitzheizung zu programmieren, aber Maria fehlte die Geduld, ihm zuzuhören, lieber fror sie.

      Die Scheiben beschlugen, Maria wischte mit der flachen Hand über das kalte Glas, rollte vom Parkplatz auf die einsame Straße.

      Fünfundzwanzig Minuten später fuhr sie auf die Einfahrt, sah, dass im Haus alles dunkel war, verschloss den Wagen, blickte hinauf in den Sternenhimmel, Licht, das vor Millionen von Jahren ausgesendet worden ist, verglühte Sonnen.

      Wie alles erlischt, das Universum ausgestattet mit einem einzigartigen Selbstzerstörungsmechanismus, ebenso ihr eigener Kosmos. Die Uhr läuft rückwärts von Geburt an.

      Hannes war schon im Bett, als sie kam, las in einem Fachbuch über Psychoanalyse, er bildet sich fort aus alter Gewohnheit, aber auch, um seine Einsicht in die menschliche Libido nicht zu verlieren (Marias Hypothese: Der Verlust des eigenen Begehrens ist Voraussetzung, um den menschlichen Sexus durch das Vergrößerungsglas zu betrachten). Er trug einen blau-grün gestreiften Schlafanzug, seine Lieblingsfarben, blickte über die Lesebrille zu Maria auf.

      Sie im seidenen Hemd, türkis, keinen Slip, setzte sich auf die Bettkante ihrer Hälfte, mit dem Rücken zu Hannes, die Beine geschlossen. So verharrte sie, eine Minute oder zwei, legte sich hin, Hannes blätterte um, wie ihr Tag gewesen sei?

      Endlos, dachte Maria und schwieg, zog die Decke hoch bis ans Kinn, eine Hand über ihrer Vulva, die andere über den Augen, bis Hannes das Buch beiseite legte und das Licht löschte.

      Am Morgen darauf hatte sie Kopfschmerzen, schon beim Erwachen ein Pochen hinter dem linken Auge, das unerträglich wurde, als sie sich erhob. Vorsichtig ging sie ins Bad, jeder Schritt ein klopfender Schmerz, sie öffnete die Schublade mit den Medikamenten: Imigran, Ibuprofen, Paracetamol, sogar ein Fläschchen Tramal, das sie an den schlimmsten Tagen nahm, Morphium machte außer schmerzfrei auch noch glücklich für drei, vier Stunden.

      Hannes verschrieb ihr, was sie benötigte, um mit ihren Migräneattacken fertigzuwerden, das Morphium aber solle sie möglichst selten nehmen, davon sei sie im Handumdrehen abhängig.

      Heute brauchte sie ein wenig Glücklichsein, sie schüttelte das Fläschchen, öffnete


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