Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann. Franziska Steinhauer

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Enttäuscht scheinen sie mir. Ich habe manchmal den Eindruck, dass hier eine durch und durch deprimierte Generation heranwächst.«

      »Meine Schwester nennt das anders: faul! Arbeitsscheu und faul! Das scheint zumindest in Bezug auf meinen Neffen und seine Freunde zuzutreffen.«

      »Ist doch schwierig in diesen Zeiten. Wann immer du etwas möchtest, ist es entweder nicht zu bekommen oder zu teuer. Da könnte der eine oder andere schon den Eindruck gewinnen, Verbrechen lohne sich durchaus und bringt schneller was ein als harte Arbeit.«

      »Was, wenn wirklich ein Mörder in der Stadt sein Unwesen treibt? Wir warnen in der morgigen Ausgabe. Eltern sollen ihre Kinder besser beaufsichtigen, die Bewohner der Stadt verdächtige Vorkommnisse oder Beobachtungen sofort melden, die Polizei soll den Vermisstenanzeigen nachgehen!«

      »Das sind aber verflixt viele soll und sollen. Wenn du da mal nicht aus dem Blick verlierst, dass so manche Eltern durchaus froh sind, wenn das eine oder andere Familienmitglied nicht mehr am Tisch Platz nimmt. Die werden das bei der Polizei gar nicht anzeigen.«

      »Schon möglich. Selbst für die, denen es nicht an Geld fehlt, ist es schwierig genug, überhaupt einzukaufen, um alle Mäuler zu stopfen. Man läuft ja über Stunden herum, nur um eine Mahlzeit zu sichern!«

      »Nun ja …«, druckste Ahab rum und murmelte dann leise, »es gibt schon einige Quellen.«

      »Illegal!«

      »Was ist daran illegal, wenn es doch in den normalen Läden gar keine Ware gibt! Sollen wir nun alle Hungers krepieren? Manchmal kommt es mir vor, als interessiere es niemanden mehr, ob der normale Bürger überhaupt noch überleben kann!«, echauffierte sich Richard, von dem man einen solchen Kommentar nicht erwartet hätte. »Da muss man eben dort kaufen, wo es was gibt!«

      »Gemüse vielleicht, Altkleider – aber Fleisch? Im Moment kommt es mir so vor, als würde so ziemlich alles vertilgt, was essbar aussieht. Ratten sicher auch. Oder am Ende hat jemand Nachbars Katze verwurstet. Miezi, die ich immer so gern gestreichelt habe. Nein! Das ist hohes Risiko!«

      »Oder Menschenfleisch. Dann verputzt du zum Abendessen einen der verschwundenen Jünglinge und trägst so dazu bei, dass man ihn nie finden wird.« Der Pirat lachte scharf auf, als er in lauter entsetzte Gesichter sah.

      »Du denkst ja wirklich völlig pervers!«, beschwerte sich Hans Meister.

      »Na, nun mal ehrlich: Wenn bei mir mal Fleisch auf dem Teller oder in der Suppe ist, dann quatscht das nicht mehr! Woher soll ich dann wissen, wes Fleisch da zwischen den Möhrenstückchen schwimmt?«, gab Gustav grinsend zurück.

      »Gut. Es reicht jetzt!«, beendete Richard das unappetitliche und durchaus beängstigende Gespräch.

      »Habt ihr das auch gehört?«, schaltete sich Ahab ein. »Hannover ist inzwischen zu der Stadt für Diebe, Hehler, Einbrecher und anderes zwielichtiges oder lichtscheues Gesindel avanciert. Am Ende zieht dir hier einer mit dem Totschläger über den Scheitel, nur weil er neue Schuhe braucht, und deine so schön sauber sind.« Richard warf Ahab einen dankbaren Blick zu und stieg bereitwillig in das neue Thema ein.

      »Du übertreibst mal wieder maßlos!«

      »Wir kommen jedenfalls morgen auf Seite 1 damit raus, dass die Menschen sich sorgen. Spielende Kinder finden bei uns normalerweise keine blanken Schädel beim Toben an der Leine«, stellte Richard klar.

      Der Pirat schmunzelte. »Nun, so ganz blank sollen sie auch gar nicht gewesen sein …«

      7. Kapitel

      1924 im Juni

      Ludwig stapelte auf dem Bett, was er brauchen würde.

      Packte nur ein, was er für notwendig hielt.

      Viel war es nicht.

      Sie planten eine Zweiwochentour – und sicher gäbe es unterwegs die eine oder andere Gelegenheit, Wäsche zu waschen.

      Plötzlich stand seine Mutter in der Tür.

      Sie lächelte verlegen, hielt die Hände hinter dem Rücken verborgen.

      »Nun, Mutter? Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Sohn und huschte einen zarten Kuss auf ihre Wange.

      »Ach Ludwig – wie wird mir die Zeit lang werden ohne dich. Niemand hier, der sich am Abend zu mir setzt und sich mit mir unterhält – oder wohlig mit mir schweigt.«

      »Ach! Wir sind nach so kurzer Zeit wieder zurück, da fällt Ihnen gar nicht auf, dass ich weg bin.« Tröstend strich Ludwig, der die Mutter um anderthalb Köpfe überragte, über ihre faltige Wange.

      »Sieh mal«, freute sich die Mutter und zog hervor, was sie bisher versteckt gehalten hatte. »Ich dachte, falls du irgendwo ausgehen möchtest. Da brauchst du doch was Anständiges!« Mit erwartungsvoller Miene sah sie ihn an.

      Ludwig war im ersten Moment sprachlos. Als er sich gefangen hatte, keuchte er: »Aber das sollten Sie nicht!«, und schlüpfte schon voller Begeisterung in Weste und Jacke, strich mit den Fingern über den angenehm weichen Stoff. »Ist das schön! Das muss Sie ja ein Vermögen gekostet haben! Und so schnell fertig! Vielen Dank!« Stürmisch umarmte er die Mutter.

      »So gefällt dir der Anzug! Da bin ich sehr froh. Eigentlich solltest du ihn zum Studienbeginn bekommen, aber ich denke, du könntest schon früher Bedarf haben.« Lächelnd reichte sie ihm auch die Hose und verließ das Zimmer.

      Rasch schlüpfte Ludwig hinein.

      Präsentierte sich dann in der Küche.

      »Prachtbursche!«, kommentierte der Vater zufrieden. Und steckte für beide Männer eine Zigarre an. »Die Weibsleute werden dir nur so nachstellen. Komm mit!«

      Das Gespräch unter Männern fand draußen im Garten auf einer Bank statt.

      Ludwig unterdrückte ein Grinsen, als er dem alten Arzt zuhörte, der ihn über gute Umgangsformen aufzuklären versuchte.

      »Die jungen Damen, weißt du. Wenn sie zu nett sind, ist Vorsicht geboten. Früher gab es Dirnen ja nur in der Stadt, aber heutzutage können sie überall arglosen Männern auflauern. Und diese Frauen, die tragen Krankheiten in sich, die man am Ende gar nicht mehr ablegen kann und die selbst die nachfolgenden Generationen noch treffen.«

      Ludwig versprach, vorsichtig zu sein.

      Er sah zur Sonne auf, nahm einen kräftigen Zug an der Zigarre und freute sich auf die unbeobachtete Zeit mit Theo.

      Theo selbst ordnete ebenfalls sein Gepäck.

      Mit Ludwig war bereits abgesprochen, wie viel unbedingt gebraucht würde. Zufrieden betrachtete er die schmale Auslage auf dem Tisch. Das würde problemlos Platz in Tornister und Fahrradkorb finden.

      Als es klopfte, sah er überrascht auf.

      »Vater! Sie sollten doch nicht die enge Stiege heraufkommen. Das tut Ihrem Rücken nicht gut.«

      »Das lass mal meine Sorge sein. Der Rücken wird sich fügen müssen. Er wird mir helfen, in den kommenden Tagen für zwei zu arbeiten!«, knurrte der Schreiner.

      »Ja«, antwortete Theo kleinlaut. »Ich weiß, es wird Ihnen nicht leichtfallen. Aber wenn wir zurück sind, können Sie sich schonen. So viele Aufträge stehen nicht im Buch, vielleicht kann der eine oder andere Kunde ja auch noch warten.«

      »Es war ja kein Vorwurf! Ich gönne dir den Ausflug mit dem Freund. Mit Ludwig hast du einen guten Jungen zur Seite, der keine Dummheiten planen wird. Hoffe ich jedenfalls«, setzte er dann hinzu und keckerte wie ein wütendes Eichhörnchen.

      »Ludwig ist kein Wirrkopf – war er nie. Er will studieren!«

      »Theodor, ich möchte, dass du dies hier annimmst!« Damit zog der Vater ein kleines Paket hervor, das er vor der Tür abgestellt hatte. »Ich dachte, vielleicht kannst du es brauchen!«

      Mit bebenden Fingern zog der Sohn die Verschnürung auf. Starrte auf den Anzug, den er ausgepackt hatte.


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