Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann. Franziska Steinhauer

Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann - Franziska Steinhauer


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jungen Mannes kann es unverhofft zu Situationen kommen, in denen er einen guten Anzug brauchen kann.«

      Flugs zog Theo sich um.

      »Perfekt! Der Werner hat ihn mit Liebe für dich geschneidert. Und das sieht man ihm auch an. Hier!« Er warf dem überraschten jungen Mann einen Wollschal zu. »Den hat deine Mutter gestrickt, Stulpen auch. Passt alles genau zum Anzug. Eigentlich solltest du das bekommen, wenn du als Nachfolger den Betrieb übernimmst. Aber deine Mutter … naja. Anfang Juni kann es manchmal noch sehr frisch sein.«

      Theos Augen brannten.

      Jetzt bloß nicht heulen!, ermahnte er sich, bloß nicht!

      Nachts, als alles ganz still geworden war, lag Theo noch lange wach. Sah durch das kleine Fenster in die Dunkelheit hinaus. Träumte sich an die Leine. Es wird toll, wusste er.

      Wir beide, Ludwig und ich, werden eine richtig gute Zeit haben, dachte er glücklich.

      Sie trafen sich am nächsten Morgen, lachten fröhlich als sie entdeckten, dass beide Eltern sie ausgehfein gemacht hatten. Für den Fall der Fälle. Weil man ja nie wusste, in welche Situation ein Mann in ihrem Alter kommen konnte, und ein Anzug war schließlich immer die richtige Kleidung zu jedwedem Anlass.

      »Nun müssen wir den auch noch einpacken!«

      »Und gut einpacken. Der darf ja keinen Schaden nehmen! Stell dir das Gezeter vor, wenn wir zurückkommen, den Anzug nicht getragen haben und er dennoch Löcher zeigt!«

      »Oder Stockflecken! Unvorstellbar!«

      Ludwig nahm eine Karte aus der Tasche und skizzierte den Weg, den sie ab morgen fahren würden.

      »Es bleibt bei morgen Früh? Gleich nach dem Frühstück?«, fragte er, und Theo nickte eifrig.

      »Ich habe schon so gut wie alles beisammen. Proviant kriegen wir auch. Meine Mutter war um Mehl gegangen und hat uns Brot gebacken. Mhmmmm. Das hat geduftet!«

      »Mehl?«

      »Na ja, vom Schleichmarkt. Das Land bietet immer Möglichkeiten.«

      Ludwig nickte verstehend. »Ist schon schlimm, dass unbescholtene Leute so einkaufen gehen müssen! Menschen, die sich ihr ganzes bisheriges Leben nie gegen das Gesetz verhalten haben, sind nun dazu gezwungen, nur um überleben zu können. Eine Verrohung der Gesellschaft, schimpft mein Vater.«

      »Hat er ja nicht ganz unrecht, dein Vater! Man muss ja nur in die Zeitung schauen. Da gewinnt man den Eindruck, es sei nachgerade lebensgefährlich, auch nur durch eine Stadt zu gehen. Hier auf dem Land erscheint es noch erträglich. Aber in Hannover zum Beispiel, da schlagen sie dich nieder und rauben alles, was sie wegtragen können. Banden beherrschen ganze Viertel. Ungemütlich!« Theo unterstrich gestenreich seinen Bericht, und Ludwig konnte ein Grinsen nicht verkneifen. »Na, stimmt doch!«, setzte Theo hinzu. »Und man kann froh sein, wenn sie einen nicht zum Krüppel prügeln.« Der Sohn des Schreiners hatte von jeher ein eher ängstliches Naturell.

      Ludwig nickte. »Hast ja recht. Die Krise bringt das Schlechte im Menschen an den Tag. Gier heißt die Triebfeder – und damit das nicht so auffällt, nennen die Leute es Not. Rechtfertigen damit ihr schlechtes Handeln.«

      »Meinst du?«

      »Ja! Sie nehmen mehr, als sie brauchen. Die Preise auf dem Schleichmarkt steigen. Mein Vater meint, es wird noch zu Mord und Totschlag kommen um eine Scheibe Brot. Und ganz ehrlich, selbst wenn sie dich ›nur‹ zum Krüppel schlagen, dann nehmen sie dir jede Zukunft. Und die kann dir nie jemand ersetzen.«

      »Naja. Über die Zukunft haben wir ja schon gesprochen«, seufzte der Freund. Er zog einen Zettel aus der Tasche seiner Hose, strich ihn notdürftig glatt. »Hier habe ich mir aufgeschrieben, was ich auf gar keinen Fall vergessen darf.«

      »Ach, Salami?«, las Ludwig vor und kicherte albern wie ein Pennäler. »Isst du die so gern?«

      »Salami? Quatsch. Das heißt Socken! Die habe ich noch nicht eingepackt, die hingen noch zum Trocknen auf der Leine.«

      »Oh, die Leine. Du weißt ja auch von den Schädeln, oder? Hannover ist, schon der Lage wegen, ein Zentrum für Kriminelle aller Couleur. Ein Freund meines Vaters arbeitet beim Sittendezernat. Und der schreibt von ganzen Vierteln voller Dirnen, Zuhältern und Homosexuellen. Eines heißt wohl ›Insel‹ oder ›Klein Venedig‹. Was für eine Bezeichnung! Klingt doch völlig harmlos, oder? Die Polizei hat in einigen Bereichen der Stadt die Lage offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle.«

      »Meine Mutter hat auch schon gejammert, wir sollten doch lieber nicht bis Hannover fahren. Die Stadt auf jeden Fall meiden. Ein gefährliches Pflaster, sagt sie.«

      »Ich weiß. Ich musste ihr vorhin versprechen, dass wir uns fernhalten. So weit wie möglich. Denn wenn wir mit dem Zug von dort aus zurückfahren wollen, müssen wir ja zumindest bis zum Bahnhof«, grinste Ludwig breit. »Das werden wir ja noch überleben! Immerhin sind wir zu zweit, können einander im Auge behalten.«

      »Bloß nicht in Gefahr begeben … Wahlspruch meines Vaters. Hat ihn nicht vor dem Sturz bewahrt.«

      »Nun, alles hat man eben nicht im Griff. Eisglätte. Das war richtig Pech.« Er warf dem Freund einen schnellen Seitenblick zu, beobachtete, wie sich dessen Miene verhärtete. »Für ihn wie für dich!«

      Sie schwiegen.

      Gute Laune und Vorfreude schienen sich vollständig aufgelöst zu haben.

      »Gut. Lassen wir das. So: Hier sind wir. Wir können unsere Pausenplätze nach Laune und Wetter festlegen. Bis Hannover ist es sooo weit nicht. Vielleicht starten wir flott, genießen dann ein bisschen und beeilen uns am Ende auf dem letzten Stück noch einmal richtig. Nehmen dann den Zug ab Hannover. Oder wir bummeln nur ganz gemütlich bis kurz nach Göttingen, machen kehrt und fahren mit dem Rad zurück.«

      Schnell kehrte das Reisefieber wieder ein, und schon bald brüteten sie mit geröteten Wangen über dem Plan, überlegten, wie sie das Gepäck, das sich nun deutlich erweitert hatte, unterbringen würden.

      »Wir nehmen den Hund vom alten Jochen mit. Der kriegt Satteltaschen und trägt den Proviant!«, lautete ein kichernd gemachter Vorschlag.

      »Klar, und der türmt dann mit den ganzen leckeren Sachen!«

      »Vielleicht habe ich da noch eine andere Idee. Es gab da mal einen Anhänger mit langer Deichsel, extra, um die an einem Rad zu befestigen. Wenn der noch hinten im Schuppen steht …«

      Es wird ein kleines, aber sicher wunderbares, unvergessliches Abenteuer, versicherte sich Theo in Gedanken. Eine Reise, an die wir noch in Jahren zurückdenken werden.

      8. Kapitel

      1918 im Oktober / Fritz Haarmann

      Ich lüftete immer wieder für mehrere Stunden.

      Aber es kam mir so vor, als entstünde der widerliche Leichengeruch stets neu, kaum dass ich das Fenster geschlossen hatte. Dabei war der Körper nicht mehr da.

      Paul.

      Er kam gern mit. War ein ansehnlicher Bursche.

      Nicht so hübsch wie Friedel, aber hübsch genug allemal.

      Und er tat, wonach ich mich sehnte.

      Natürlich waren bei diesen Besuchen Abendessen und Frühstück Bestandteil des geschäftlichen Parts. Ich war nicht so dumm zu glauben, Paul onaniere und poliere mit mir, weil er sich nichts Schöneres vorstellen konnte.

      Mein Vater hat immer behauptet, ich sei dumm. Aber das stimmt selbstverständlich nicht. Es ist wohl eher so, dass ich manchmal einfach anders denke als die anderen.

      Paul ist auch nicht dumm. Er ist nur ein lieber Junge, der versucht, ohne die Gängelung seiner Eltern zu überleben. Dazu braucht er natürlich Geld. Eigenes Geld. Er ist einer von den Puppenjungen, die hinter dem Café »Kröpke« Männer aufgabeln – auch mich. Sie dienen sich erst freundlich an, manche drängen sich gar förmlich auf. Ich persönlich nehme sie gelegentlich


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