Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit?. Mirjam Mous
meiner Muskeln und das Gefühl der Schwerelosigkeit.
Das schwarze T auf dem Boden kündigt den Wendepunkt an. Ich mache eine Kopfrolle und bewege die Füße zur Wand. Noch im Abstoßen drehe ich mich, treibe wieder auf dem Bauch und kraule weiter. Mühelos, wie immer.
Coach Guppy fragt mich regelmäßig, ob ich in seinem Team mittrainieren will. Er sagt, damit steigen meine Chancen auf ein Sportstipendium. Aber ich will nicht, dass Schwimmen zu einer Verpflichtung wird, wie alles in der Schule. Und wer sagt, dass ich später studiere? Das dauert noch mindestens hundert Jahre.
Ich drücke mich erneut von der Wand ab und schwimme zum dritten Mal durch das Becken. Der Rhythmus meiner Schläge versetzt mich in Trance. Der Rest der Welt existiert nicht mehr. Es gibt nur noch die Stille des Wassers und die einzigen Geräusche sind meine Atmung und mein Herzschlag.
Bis jemand fast auf mich springt.
»Geht’s noch?«, rufe ich.
Ein feixendes Jungengesicht starrt mich an. Dunkle Augen mit einem spöttischen Funkeln. Am Hals ein Fußball aus Tinte.
Ich erwarte eine Entschuldigung, aber die kommt nicht. Stattdessen schluckt er Wasser, spitzt die Lippen und spritzt wie ein Wal.
Der harte Strahl trifft mich voll im Gesicht. Zum Glück trage ich eine Schwimmbrille …
»Nicht witzig«, sage ich.
Eine ältere Frau mit rosa Gummiblümchen-Bademütze schaut zu uns hinüber. Als ihr der Junge freundlich zuwinkt, wendet sie schnell den Blick ab.
»Mädchen.« Er seufzt übertrieben. »Ihr habt einfach keinen Sinn für Humor.«
»Und du hast dich verirrt.« Ich weise mit dem Kopf zur anderen Seite der Schwimmhalle. »Das Becken für die Kleinkinder ist dahinten.«
»Danke für den Tipp.« Er salutiert, verschwindet unter Wasser und schwimmt davon.
Ich schaue ihm kopfschüttelnd hinterher und ziehe weiter meine Bahnen.
Eine halbe Stunde später leere ich mein Schließfach und verschwinde in einer der Umkleiden. Kaum habe ich die Tür verschlossen, überprüfe ich mein Camphone.
Die üblichen Clicks und Camfies meiner Freundinnen.
Und ja, auch wieder eine Nachricht von Mo.
Was für ein Trottel, Mann, springt der einfach auf dich.
Das ist creepy. Woher weiß er das? Hat er mir vorhin im Schwimmbad nachspioniert?
Mit einem unbehaglichen Gefühl lege ich mein Camphone zur Seite, streife den Badeanzug runter und trockne mich hastig ab. Unterdessen versuche ich, mich an die Gesichter der anderen Besucher zu erinnern. Das einzige Bild, das aufsteigt, ist von der Frau mit der Bademütze. Sie scheint mir nicht wie jemand, der unter falschem Namen geheimnisvolle Nachrichten schickt. Aber wer dann? Jemand, der vom Rand aus zuschaute? Oder … Natürlich!
Ich habe dich durchschaut, clicke ich. Der Trottel bist du selbst!
Während ich mich anziehe, behalte ich das Display im Auge. Mos Antwort kommt in dem Moment rein, in dem ich das Magnetband meiner Sandale schließe.
Wie kannst du nur so etwas denken? Ich bin schwer beleidigt.
Gut so. Ich stopfe die nassen Badesachen in meine Tasche, hänge sie mir über die Schulter und schlendere zum Ausgang. Kurz hinter dem Poolplatz erscheint eine neue Nachricht auf meinem Display.
Er geht übrigens direkt hinter dir.
Ich kann es nicht lassen und drehe mich kurz um.
Er ist es! Der Junge mit dem Fußball-Tattoo!
Schnell schaue ich wieder vor mich. Und dann auf mein Camphone, denn Mo clickt mich wieder an.
Pass nur auf, dass er nicht noch mal auf dich springt.
Droht er mir jetzt?
Der Walgesang bekommt auch etwas Bedrohliches. Ich beschleunige meinen Schritt.
Wovor habe ich eigentlich Angst? In einem Gang voller Menschen wird er mir bestimmt nichts antun.
Mit einem Ruck drehe ich mich um und versperre ihm den Weg.
»Du schon wieder?«, fragt er gespielt erstaunt.
»Glaubst du wirklich, dass ich noch einmal darauf reinfalle?«, frage ich.
»Wie meinst du das?«
»Das weißt du genau, Mateo.« Ich spreche seinen Namen betont aus. »Oder soll ich dich Mo nennen?«
»Du darfst mich nennen, wie du willst«, sagt er. »Aber meiner Ansicht nach hast du den Falschen. Ich bin Xavi.«
»Ja, klar.«
»Du glaubst mir nicht?« Er zeigt mir sein ID-Bändchen. »Xavi Williams, sechzehn Jahre.«
Als könnte ich nicht selbst lesen.
Ein paar Mädchen starren uns an und fangen an zu flüstern. Ich spüre, dass meine Wangen wahnsinnig brennen, aber Mo scheint das vor allem witzig zu finden und schaut ungeniert hin.
»Noch schlimmer«, sage ich, »Dann hast du diese dämlichen Nachrichten also unter einem falschen Namen und falschem Profil geschickt.«
Er vergisst sein Publikum. »Welche Nachrichten?«
Ich halte ihm mein Camphone unter die Nase. »Die.«
»Die sind nicht von mir«, sagt er.
Ich schnaube.
»Guck selbst nach!« Er reicht mir sein Camphone.
Ich checke alle versendeten Nachrichten. Keine einzige ist an mich gerichtet.
»Hast du sie gelöscht?«, frage ich, nicht mehr ganz so sicher.
Er stöhnt. »Bist du paranoid, oder was? Du siehst doch, dass ich eine ganz andere Nummer habe.«
Ich kapiere gar nichts mehr. Wenn er nicht Mo ist, wer dann?
»Sorry«, murmele ich und gebe ihm sein Camphone zurück. »Hab ich mich wohl getäuscht.«
»Kein Problem«, sagt Xavi.
Idiotin, kann ich ihn denken sehen.
Während er sich von mir entfernt, pingt mein Gerät.
Wieder eine Nachricht von Mo: Sagte ich doch.
Holden
Ich habe mein Camphone auf eine Packung Klopapierrollen gelegt, gestützt von einer Streichholzschachtel, damit der Lichtstrahl schräg nach oben weist und ein Regal beleuchtet.
Zum ersten Mal steigt ein Fünkchen Hoffnung in mir auf. Der Boden ist leer. Die Matratze lehnt jetzt an der Wand. Ich muss nur noch das Regal unter die Öffnung in der Decke schieben und auf das oberste Brett klettern. Dort oben, so viel näher an der Außenwelt, habe ich bestimmt wieder Empfang. Vielleicht erreiche ich sogar den Rand des Lochs, kann mich hochziehen und hinausklettern.
Das glaubst du wohl selbst nicht, höre ich Papa sagen.
Ja, ich weiß, dass er tot ist. Und nein, ich bin nicht verrückt – auf jeden Fall nicht verrückter als die meisten Leute, auch wenn sie das in der Klinik von mir denken. Trotzdem höre ich Pa noch manchmal in meinem Kopf und dann rede ich in Gedanken mit ihm – wie manche Leute mit Gott oder Allah sprechen. Nur dass die nie zu einem Psychiater geschickt werden …
Ich hole tief Luft. Dann schraube ich meine Hände fest um die Regalstützen und zerre mit aller Kraft daran.
Mistding! Es bewegt sich keinen Millimeter.
Ich fege die Konservendosen runter, damit es leichter wird. Mit viel Getöse fallen sie zu Boden – bis auf eine blöde Büchse, die unbedingt auf meinem rechten Schuh landen muss.
Del Monte, 415 Gramm halbe Birnen im eigenen Saft.
Es