Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit?. Mirjam Mous

Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit? - Mirjam Mous


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hundert Stressflaschen zerschlagen lassen, während ich auf alles und jeden fluchen durf‌te wie ein Kutscher.

      »Scheißbirnen in fucking schwerem Saft!« Ich raffe die Dose auf und schmettere sie gegen die Wand.

      Es hilft nicht die Bohne. Ich komme mir höchstens lächerlich vor.

      Während ich mir große Mühe gebe, meinen pochenden großen Zeh zu ignorieren, umarme ich das Regal von der Seite. Ich schlinge die Arme um die beiden Stützen und verflechte meine Finger.

      Ziehen.

      Keine Bewegung.

      Ich beuge mich mit vollem Gewicht hintenüber, aber das Ding ist wie festgeklebt. Um besser sehen zu können, nehme ich mein Camphone dazu.

      Es ist noch schlimmer. Die Regalfüße stehen in einer Art Betonbett.

      Meine Hoffnung schrumpft wie brennendes Papier. Welcher Idiot hat sich das ausgedacht? Jemand mit einer Phobie vor umfallenden Regalen? Derjenige braucht eine Therapie viel dringender als ich.

      Der Schmerz in meiner Hüfte und in den Fußgelenken lodert wieder auf und plötzlich bin ich todmüde. Mit der Schuhkante schubse ich vorsichtig ein paar Dosen zur Seite, damit ich die Matratze wieder auf den Boden fallen lassen kann. Noch immer keuchend, setze ich mich hin, den Schlafsack als Kissen im Rücken.

      Was soll ich denn jetzt machen?

      Eine riesige Welle Selbstmitleid steigt in mir auf.

      Stell dich nicht so an, sagt Pa. Das willst du doch? Abenteuer erleben?

      Ich rolle die nächstliegende Konserve zu mir und betrachte das Etikett. Ananasscheiben. Echtes Essen. Wenn ich sowieso nicht mehr wegkann …

      Mein Finger hat sich schon unter den Ring gezwängt. Ich ziehe den Deckel hoch.

      Gelbliche Früchte in trübem Wasser mit einem überwältigend süßen Duft. Ich fange vorsichtig an und schlecke daran wie eine Katze. Die Flüssigkeit reizt meine Zunge und schreit meinem Hirn augenblicklich zu: Mehr! Gierig schöpfe ich die Scheiben aus der Dose und stopfe sie mir in den Mund. Die Ananas ist schlaff und weich und zerfällt. Meine Hände werden klebrig und der Saft tropft mir übers Kinn. Es ist mir egal. Ich esse und trinke, bis die Dose komplett leer ist.

      Schon nach wenigen Minuten bereue ich es. Mein Bauch fühlt sich ekelhaft geschwollen an und ich sterbe vor Durst. Hoffentlich habe ich mich nicht vergiftet! Diese Konserven sind steinalt. Nervös checke ich mein ID-Bändchen, aber das gibt glücklicherweise weder einen Alarm von sich noch ungebetenen medizinischen Rat.

      Ich drücke mich hoch und nehme eine Flasche Wasser, um den Kleb von Gesicht und Fingern zu spülen. Dann lasse ich mich wieder auf die Matratze fallen und trockne mir die Hände an der Hose ab. Wie lange kann man Wasser wohl auf‌bewahren?

      In einem verlassenen Schutzkeller todkrank werden ist echt ein furchtbar schlechter Plan, mischt Pa sich ein.

      Bei lebendigem Leib verbrennen auch.

      Ich mache mir nicht die Mühe, das Haltbarkeitsdatum zu checken. Das hat dieses Wasser sowieso längst überschritten, genau wie alle anderen Sachen in diesem Keller. Ich trinke einen kräftigen Schluck. Es schmeckt normal, höchstens ein wenig muf‌fig. Bevor es mir bewusst ist, trinke ich die halbe Flasche leer und rülpse – das können Eichhörnchen übrigens nicht!

      So, das erleichtert. Jetzt noch den drückenden Hosenbund …

      Während ich den obersten Knopf öffne, schlägt mein ID-Bändchen doch noch Alarm.

      Rote Buchstaben leuchten auf. Therapie in fünf Minuten.

      Ist das alles? Einen kurzen Moment hatte ich Angst, ich müsste wie Pa den Löffel abgeben.

      Was nicht ist, kann noch werden, sagt seine Stimme in meinem Kopf.

      Die grenzenlose Müdigkeit von eben überfällt mich wieder. Wer weiß, vielleicht kann ich nie wieder zu Doktor Wendy. Nie mehr zu wem auch immer. Und wie soll es dann mit Ma weitergehen?

      Ich lege mich hin, ziehe den Schlafsack über mich und stelle mir vor, dass ich nicht in irgendeiner Scheißhöhle liege, sondern zu Hause in meinem eigenen Bett.

      Als Prissy heute Morgen an die Badezimmertür bollerte, rief ich ihr zu, sie sollte sich verpissen.

      Die epischen letzten Worte eines Dummkopfes.

      Offenbar bin ich kurz eingenickt.

      Nicht kurz, sondern länger als eine Stunde, wenn ich meinem ID-Bändchen glauben darf.

      Mein Bauch tut nicht mehr weh. Ich schlage den Schlafsack zur Seite und starre zur Decke hinauf.

      Die Wände rundum sind glatt und hoch, selbst mit Steigeisen und Seilen wäre das Hochklettern ein schweres Stück Arbeit.

      Vielleicht hing dort früher mal eine Strickleiter? Oder da hat eine Leiter gestanden, die nach all den Jahren verrottet ist? Aber wo sind dann deren Überreste? Das einzige Holz, das hier liegt, sind die verrotteten Bretter, durch die ich gebrochen bin und …

      Ich federe auf. Vielleicht ist das ja gar nicht der Ausgang!

      Im Licht meines Camphones zwänge ich mich hastig durch die hohen Regale. Habe ich etwas übersehen? Eine in die Felsen gehauene Treppe mit einer Geheimluke oder Stangen in der Wand, über die man hochklettern kann?

      Dort! Ich muss schon dreimal daran vorbeigelaufen sein, aber erst jetzt fällt es mir auf. Da hängt eine Art Plane. Sie hat die Farbe der Felswand, wodurch sie kaum auf‌fällt.

      Ich wünsche mir eine Treppe, eine Tür, einen Ausgang – ich schiebe die Plane zur Seite …

      Ein Tunnel!

      Dann erlischt plötzlich die Taschenlampe an meinem Camphone und es wird pechschwarz.

      Prissy

      Sobald ich zu Hause bin, clicke ich meinen Freundinnen: Camchat. Jetzt!

      Aber auch sie kennen niemanden namens Mo oder Mateo.

      »Ein seltener Fall von Cyberstalking«, sagt Anna.

      »Vielleicht ist es ja ein Pädophiler«, sagt Flow. »Die gibt es wirklich immer noch! Ich würde ihn anzeigen.«

      »Und wenn die Ordnungskräfte dann mein Camphone untersuchen wollen?«, protestiere ich. »Dann bin ich tagelang ohne.«

      »Meinst du echt?« Flow ist fast im Schockzustand. »Eher würde ich mir den kleinen Finger amputieren lassen!«

      »Mach es lieber, Pris«, sagt die vernünf‌tige Anna. Sie nestelt an einem ihrer hundert Ohrringe. »Deine Nummer hat er schon. Wer weiß, vielleicht entdeckt er ja auch noch, wo du wohnst, und dann wirst du ihn nie wieder los.«

      Brooklyn hat ihr Telefon aufs Waschbecken gelegt, damit sie ihren Lidschatten nacharbeiten kann; ich sehe sie nur noch von unten. Sie vermittelt mir das Gefühl, vollkommen unwichtig zu sein, und das kann ich nicht ausstehen.

      »Was meinst du?«, frage ich.

      Ihre Hand mit dem Applikator bleibt einen Augenblick in der Luft hängen.

      »Sofort blockieren, diesen Widerling.«

      »Was für eine gute Idee!«, ruft Flow, als hätte Brooklyn gerade eine neue Modelinie erfunden.

      »Das schon, aber …« Ich verschlucke den Rest meiner Worte. Sie würden es sowieso nicht kapieren.

      »Aber was?«, fragt Flow.

      »Nichts«, sage ich mit einem Kopfschütteln zum Display. »Danke, Mädels.«

      Ich beende den Chat und setze mich mit meinem Camphone aufs Bett. Wenn ich Mo blockiere, gibt es keinen Weg mehr zurück. Dann wird er für immer und ewig ein Mysterium bleiben.

      Ich hasse ungeklärte Mysterien.

      Mein Gerät verschwindet irgendwo in den Kissenstapeln hinter meinem Rücken.


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