68er Student. Torsten Ewert

68er Student - Torsten Ewert


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wir uns zum nächtlichen Landwehrkanal, eine Mutprobe in einsamer Umgebung.”

      „Ganz genau, du stimmst mit mir überein, lass uns aufbrechen, Hic Rhodos, hic salta.“

      Ein entschlossener Aufbruch in die Abenddämmerung, eine glückliche Rosi am Arm, die Peter eine überraschende Gemeinsamkeit anvertraute. Sie, Rosi, war wie Rosa eine polnische Jüdin. Für Rosas Ideale wollte sie kämpfen, aber am Leben bleiben, deren Kampf fortsetzen, dies an ihrem Gedächtnisort schwören. Peter staunte über ihre Entschlossenheit. Vor dem hellerleuchteten Hilton blieben sie stehen, Nobelkarossen wurden von diensteifrigen Portiers umwieselt, Kofferberge auf Rollwagen gestapelt, deren elegante Besitzer mit ihren Damen durch das Eingangsportal schlenderten, während das Personal sich kümmerte.

      „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm1. Brecht kannte sich aus.”

      „Der Klassenkampf wird dafür sorgen, dass es allen gut geht”, konterte Rosi.

      Die Rückseite des Hilton war weniger imposant, lag ruhig zum Tiergarten hin, kein Straßenlärm mehr, träge floss das Wasser des Landwehrkanals, kaum wahrnehmbar. Vom Zoologischen Garten gab’s vereinzelte Laute schläfriger Tiere – oder nächtlicher Geister?

      Kein Mensch weit und breit, außer zwei Neugierigen, die das Abenteuer suchten. In der Finsternis leitete sie das silbrige Wasserband, kaum waren ihre gedämpften Schritte zu vernehmen. Rosi drängte sich an Peter, vom Wasser weg. Irgendwo im totalen Dunkel einer Brücke umschlang sie ihn. Unter seinen Händen, die ihre Brüste umfassten, spürte er den hämmernden Herzschlag, er wollte sie küssen, sie beruhigen. Doch Rosi kam ihm zuvor. Mit einem Jubelschrei schwang sie sich kraftvoll an ihm hoch, umschlang seine Hüfte mit ihren Beinen, verschloss seinen Mund an ihrem Leib, und rief in die stockdunkle Nacht hinein, wieder und wieder: „Rosa, ich liebe dich.“

      Peter, begeistert mitgerissen, begann sich wie ein Derwisch zu drehen, schneller und immer schneller, bis er taumelte und sie auf ihre Füße sprang und ihn hinderte, zu stürzen.

      „Hier ist Rosi, hier tanze ich.”

      Der Augenblick ihres großartigen Glücks.

      Spät in der Nacht ein hingemurmeltes Geständnis: „Du bist ein toller Kerl, ich bin total berauscht, aber Claudia und ich sind ein Paar.”

      Was blieb ihm übrig, als sich an ihrem Lob zu erfreuen und ein Abenteuer erlebt zu haben.

       Ein Krankenpflegepraktikum

      Unschwer und nicht ganz zufällig entdeckte Peter den stets gut über das Studium informierten Siegfried, einen unverbesserlichen Caféhausbesucher in seinem geliebten Stammcafé im sozialwissenschaftlichen Institut. Dessen Interesse war dem heutigen Streuselkuchen vorbehalten, und Peter hoffte auf ein paar allgemeine Hinweise des Tausendsassas zur weiteren universitären Ausbildung.

      „Für das Studium ist während der Semesterferien ein Pflegepraktikum von vier Wochen im Krankenhaus erforderlich. Zum Nachweis, ob dir die Krankenhausluft, die Atmosphäre, ganz einfach das Ambiente gefällt und du außerdem die Arbeit der Pflegekräfte schätzen lernst. Jeder muss das einmal erlebt haben, der den Rest seines Arbeitslebens im Krankenhaus verbringen will. Ich hab mich im Westend-Klinikum beworben. Wie sieht es bei dir aus?”

      „Null”, war die kleinlaute Antwort, „danke für die Auskunft, zweimal Schwarzwälder Kirsch auf mich. Hast du Lust auf Kino? Bud Spencer und Terence Hill verprügeln nach Herzenslust ihre Gegner in Gott vergibt, Django nie.“

      Siegfried zeigte lediglich Interesse an seiner Torte. „Meine Freundin wartet, sie hat etwas gekocht, ich könnte dich einladen.”

      Jetzt wiederum war Peter nicht enthusiastisch. Bloß keine Wohnzimmeridylle, auch schränkte der Konjunktiv ein. Er hatte von Siegfried eine ungefähre Beschreibung über dessen Untermieterbehausung bei einer Witwe, die gesittetes Benehmen, gepflegte Ruhe und gegenseitige Achtung erwartete. Ihm war heute mehr nach handfestem Haudrauf zumute, also Verabschiedung.

      Der Film verursachte mindestens zwei bis drei Dutzend ärztliche Traumabehandlungen, je nach Schweregrad der zugefügten Verletzungen entweder ambulant oder stationär, aber das nur nebenbei. Die Protagonisten nahmen es in Kauf.

      Sofort am nächsten Tag schlug er den Weg zum Bezirkskrankenhaus nach Neukölln ein, die nächstgrößere Klinik, und sprach bei der Oberin vor, einer gestandenen, aber freundlichen Matrone in tadelloser Schwesterntracht und mit weiß gestärktem Häubchen, unter dem die grauen Haare zu einem Dutt verdreht waren. Zwei gütige Augen musterten ihn dabei, wie er unsicher und befangen sein Anliegen vortrug. Ihr Kopfnicken bestärkte ihn darin, ungezwungener zu werden.

      „Natürlich, Sie können sofort anfangen. Ich habe auch schon eine interessante Abteilung im Kopf, die Neurochirurgie. Professor Aalhus ist ein sehr netter und freundlicher Chef.”

      Peter dachte an den gestrigen Film, sicherlich wäre Aalhus mit seinem Können im Wilden Westen ein brauchbarer Mann gewesen.

      „Erscheinen Sie nächsten Montag pünktlich 7 Uhr hier im Büro, für die Einkleidung und um den Vertrag zu unterschreiben. Geld wird nicht gezahlt, Sie sind aber gegen Fehlverhalten versichert.”

      Ein ergebendes Nicken. Von ihrem mütterlichen Charme beeindruckt, gelang ihm zum Abschied ein angedeuteter Diener.

      Zu Dienstbeginn, nach einigen Anweisungen und zu befolgenden Regeln durch die Oberin belehrt, wurde er Schwester Bärbel von der Männerstation, einer erfahrenen Mitarbeiterin wie die Oberin sie lobte, übergeben, die sich sofort nach seinen pflegerischer Vorerfahrung erkundigte. Dabei musterte sie Peter mit strengen Augen und ernstem Gesicht, geprägt durch jahrelange und verantwortungsvolle Tätigkeit. Sein verneinendes Kopfschütteln wurde kommentarlos hingenommen. Der ihr zugeteilte Anfänger entfachte wenig Begeisterung. Resigniert nahm es Peter zur Kenntnis, er würde schon beweisen, dass er der Arbeit gewachsen war. So schwer konnte es auch nicht sein, Patienten zu waschen, sie zu betten, ihnen Essen zu bringen, sie auf den Topf zu setzen, sie zur Toilette und den Untersuchungen zu begleiten.

      Nachdem er sich umgezogen hatte, trottete er Schwester Bärbel, die energisch voranschritt und am Ende eines Flures die Tür zu einem größeren Raum aufstieß, hinterher. Überrascht nahm Peter ein Dutzend halbnackter, bewusstloser Männer zur Kenntnis, alle, sofern nicht durch einen turbanähnlichen Verband verdeckt, mit kahlgeschorenen oder stoppelhaarigen Schädeln und an diversen piepsenden Geräten angeschlossen. Ein intensiver Geruch nach Desinfektionsmitteln lag in der Luft und raubte ihm den Atem. Nein, hier war keine wohlwollende Atmosphäre freundlich lächelnder, dankbarer Patienten, sondern ein wahrhaftiges die Sinne betäubendes Gruselkabinett, das Peter augenblicklich in die Knie zwang. Eine Vorwarnung wäre sicherlich angebracht gewesen. Ein Schwindel bemächtigte sich seiner, die Umgebung versank im Nebel, die Geräusche entrückten in weite Ferne, seine Knie wurden butterweich. Der Türrahmen war die letzte Hilfe.

      „Verdammt.”

      Nur nichts anmerken lassen, tief durchatmen, keine Schwäche zeigen.

      Über seine Leichenblässe, den hier liegenden Patienten ähnlich, wurde kaltblütig hinweggesehen.

      „Reine Routinearbeit, wir werden die Patienten neu betten.”

      Deren Versorgung erfolgte mit klaren Anweisungen nach einem definierten Protokoll: entblößen, säubern, drehen, säubern, ein neues Stecklaken ausrollen, zudecken.

      Eine heftige Hustenattacke erschütterte hin und wieder einen der Bewusstlosen, grüngelber Schleim flog aus der Beatmungskanüle auf die Bettdecke. Auch jetzt brachte Peter seine ganze Kraft auf, um nicht selber zum Patienten zu werden, die Blamage zu vermeiden. Er musste dem Schrecken der Krankheit trotzen.

      Nach zwei Stunden hatten sie ihre Arbeit bewältigt.

      „Pause, ein Kaffee gefällig?”

      Ein wortloses Nicken, dankbar nahm er den dargebotenen Stuhl an.

      „Das war schon starker Tobak.”

      Die Spannung verflog. Ekel, das wurde ihm bewusst, gehörte zum Beruf. Aber auch später beschlich


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