Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn
Ibn Taymiyya als einer der bedeutendsten Leser der falāsifa gelten, der deren Werke nicht nur genauestens kannte und analysierte, sondern selbst bedeutende Beiträge zum philosophischen Denken leistete.
Angesichts des reichen und vielversprechenden Gehalts des Darʾ ist es umso erstaunlicher, dass es auch nach mehr als dreißig Jahren seit dem Erscheinen der ersten vollständigen Ausgabe noch keine umfassende Behandlung durch einen westlichen Wissenschaftler gibt. Abgesehen von einigen kleineren und vorläufigen Studien von Y. Michot, B. Abrahamov und N. Heer, wurde dieses Werk von der westlichen Wissenschaft mit völliger Missachtung gestraft.
Dafür lassen sich verschiedene Gründe anführen. Ibn Taymiyya pflegte einen außergewöhnlichen Schreibstil, der es dem Leser nicht immer leicht macht, seine Gedanken zu einem bestimmten Thema zu verfolgen, die oftmals auf viele Stellen in mehreren Werken verteilt und zudem von vielen Exkursen durchsetzt sind. Die vorliegende Abhandlung möchte daher einen Überblick über dieses Werk als Ganzes liefern, das weiteren Forschungen als »Landkarte des Darʾ« dienen mag.
Ein zweiter Grund mag die Stellung des Autors in der Geschichte sein. Ibn Taymiyya folgte auf die sogenannte »klassische Periode« der islamischen Zivilisation, der als deren vermeintlicher Höhepunkt die meiste Aufmerksamkeit der geistesgeschichtlichen Erforschung zufiel, während die folgende Periode dem orientalistischen Vorurteil als Zeit des Verfalls galt, die keine Beachtung verdiente. Zur Korrektur dieses Bildes, die mittlerweile eingesetzt hat, mag auch diese Abhandlung einen Beitrag leisten.
Ein dritter Grund mag in der überkommenen Vorstellung von Ibn Taymiyya als intellektueller Figur zu finden sein, die kaum je in Bücher über islamisches Denken, islamische Philosophie oder sogar islamische Theologie aufgenommen wurde. Er galt nicht als Denker, sondern bloß als simpler »Apologet der Theologie«, von dem schon gar nichts auf dem Gebiet der Philosophie zu erwarten war. Demgegenüber schickt sich diese Abhandlung an, den philosophischen Gehalt, der den gesamten Darʾ in mannigfaltigen Ideen und Argumenten durchzieht, zu untersuchen und herauszuarbeiten.
Darüber hinaus erschließt sich die eigentliche Bedeutung des Darʾ allererst durch die Einsicht in die Aktualität des darin behandelten Problems des spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen Vernunft und Offenbarung, das als das zentrale Thema in der islamischen Moderne gelten kann. Hinter vielen aktuellen Debatten lauern die gleichen Themen, mit denen Ibn Taymiyya sich so intensiv befasst hat, als er die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung für seine Zeit zu klären versuchte.
TEIL 1: VERNUNFT VERSUS OFFENBARUNG?
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