Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn
wie sie im Kalam verstanden werden, in Frage. Einer der Gründe dafür ist die unübersehbare Vielfalt gegensätzlicher, ja widersprüchlicher Auffassungen, zu denen die Anwendung der vermeintlich rationalen Methoden der Mutakallimun geführt haben, z.B. hinsichtlich der Attribute Gottes.
Nach Ibn Taymiyya sollte nicht die Rationalität allein der Maßstab sein, sondern an erster Stelle die Gewissheit stehen. Demjenigen Beweis sollte der Vorrang gegeben werden, der gewiss (qatʿī) ist. Wenn sich zwei Beweise widersprechen, sollte derjenige mit einem höheren Grad an Gewissheit vorgezogen werden, unabhängig davon, ob er rational oder überliefert ist.
Ibn Taymiyya führt dazu aus:
Es wird gesagt, dass es, wenn zwei Beweise einander widersprechen, seien sie offenbart oder rational, oder einer offenbart und der andere rational, dann sein muss, dass entweder beide gewiss oder beide konjektural sind oder einer gewiss ist und der andere konjektural. Wenn beide gewiss sind, seien sie rational oder offenbart, oder einer rational und der andere offenbart, ist es nicht [logisch] möglich, dass sie einander widersprechen. Darin sind sich alle Leute der Vernunft einig, weil ein gewisser Beweis die Gültigkeit dessen aufzeigt, worauf er verweist, und seine Ungültigkeit unmöglich macht. Wenn daher zwei gewisse Beweise einander widersprechen würden, und einer dem widersprechen würde, was der andere aufzeigt, so würde dies die Verbindung zweier Gegensätze verlangen, was [logisch] unmöglich ist. Wann immer man einen scheinbaren Widerspruch zwischen zwei Beweisen findet, die als gewiss gelten, dann folgt notwendig daraus, dass beide Beweise oder mindestens einer von ihnen nicht gewiss ist; oder dass die beiden Gegenstände, die aufgezeigt werden, einander nicht widersprechen. […] Wenn jedoch [nur] einer der widersprüchlichen Beweise Gewissheit liefert, dann ist gemäß dem Konsens der Leute der Vernunft seine Priorität notwendig ungeachtet dessen, ob der Beweis offenbart oder rational ist, da Vermutung Gewissheit nicht überwiegt. (86-87; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿarudh, 1: 79)
Die Inhalte der Offenbarung ermangeln nicht einer rationalen Grundlage. Widersprüche treten dann auf, wenn das rationale Argument nicht stimmig oder wenn eine Überlieferung unsicher und zweifelhaft ist. Dies kann im Falle des Koran und der authentischen Sunna nicht eintreten, da ihr Status gesichert ist, wohingegen rationale Argumente überprüft werden müssen.
Ibn Taymiyya kritisiert auch den Einsatz der (Re-)Interpretation (taʾwīl) durch die Mutakallimun. Deren Definition von taʾwīl als »die Verwendung einer sekundären Bedeutung für ein besseres Verstehen des Textes« stimmt nicht mit dessen ursprünglicher Bedeutung überein. Die frühen Koranausleger und Salaf hatten unter taʾwīl nur das Erklären des Textes und die Klärung seiner Bedeutung (tafsīr al-kalām wa bayān maʾāhu) verstanden, was unproblematisch ist, da es nur auf ein besseres Verstehen des Textes abzielt.
Demgegenüber verstehen die Mutakallimun unter taʾwīl die Ersetzung der gebräuchlicheren oder wahrscheinlicheren Bedeutung eines Wortes durch eine weniger gebräuchliche oder wahrscheinliche (sarf al-lafz min al-ihtimāl al-rādschih ilā alihtimāl al-mardschūh), wenn die primäre Bedeutung Schwierigkeiten bereitet. Für Ibn Taymiyya entspricht dieses Verfahren, das sich von der allgemein üblichen Bedeutung entfernt, nicht der wahren Bedeutung von taʾwīl.
Ibn Taymiyya erkennt an, dass taʾwīl auch den Verweis auf eine Wahrheit (al-haqīqa allati yuʾawwal al-kalām ilayhā) bezeichnen kann. Dieser Sinn bezieht sich auf koranische Beschreibungen des jenseitigen Lebens, wobei der taʾwīl nur Allah und denjenigen, die Er darüber in Kenntnis setzte, bekannt ist. Es steht aber nicht den Mutakallimun zu, die Erkenntnis der verborgenen Bedeutung zu beanspruchen. Sie schreiben dem Text vielmehr Bedeutungen zu, die möglicherweise nicht der Intention Allahs entsprechen, was einer Abänderung (tahrīf) gleichkommt.
Die im Koran genannten Attribute Allahs sollten überhaupt nicht interpretiert werden, auch wenn sie gewisse Ähnlichkeiten mit menschlichen Eigenschaften aufweisen. Denn die Attribute Allahs unterscheiden sich völlig von menschlichen Eigenschaften, so dass der Gebrauch dieser Ausdrücke zur Beschreibung Allahs, der durch die Beschränktheit der menschlichen Sprache erforderlich ist, nicht anthropomorph ist. Von der metaphysischen (verborgenen) Welt mittels der Sprache dieser Welt zu sprechen, bedeutet nicht, eine Ähnlichkeit zwischen den beiden zu unterstellen. Alle Attribute Allahs sollten daher nicht interpretiert werden, im Gegensatz zur Praxis der Mutakallimun, die manche interpretieren und andere nicht.
Ibn Taymiyya verwirft allerdings Interpretation (taʾwīl) nicht völlig, sondern bezieht sie auf die in āya 3: 7 beschriebenen Verse, die mehrdeutig, dunkel oder äquivok (mutaschābihāt) sind.8 Es sollte dabei nicht angenommen werden, dass die Kenntnis der Bedeutung dieser Verse einzig Allah zukommt (tafwīd). Denn der Koran wurde von Allah herabgesandt, um verstanden und befolgt zu werden. Daher muss sein Inhalt erkennbar sein, mit Ausnahme der mehrdeutigen Verse, die ein höheres Maß an Wissen und Gelehrsamkeit voraussetzen. Ibn Taymiyya empfiehlt deshalb, sich um das Verstehen und Erklären des Koran zu bemühen, solange gewährleistet ist, dass die Bedeutungen nicht abgeändert werden.
2.6 Systematisierung einer koranischen Theologie: Rationalität innerhalb der Tradition
Ibn Taymiyya setzte sich durch seine Kritik vom Kalam ab und strebte danach, eine alternative rationale Theologie zu entwickeln, die auf der Offenbarung und den Traditionen der Salaf gründet. Während der Koran und die Sunna zu einer Einheit von Wissen und Handeln führen, ist das Ergebnis des Kalam bloß abstraktes Wissen. Die offenbarte Botschaft steht zudem in Einklang mit der menschlichen Natur und bietet daher eine direkte Beweismethode, die den auf Deduktion oder Analogie beruhenden Methoden des Kalam überlegen ist.
Ibn Taymiyya führt aus:
Der Unterschied zwischen den Methoden des Koran und des Kalam besteht darin, dass Allah gebietet, Ihm zu dienen, ein Dienst, der die Vervollkommnung der Seele, ihr Wohlergehen und ihr höchstes Ziel ist. Er beschränkte ihn nicht auf die bloße Affirmation [Bestätigung; tasdīq] von Ihm, worauf die Kalam-Methode abzielt. Diese beiden (Methoden) stimmen nicht überein, weder in den Methoden noch in den Zielen. Die koranische Methode ist, wie gesagt, intuitiv und direkt (fitriyya qarība), indem sie zum Wesen des Ziels führt, (wohingegen) die andere analogisch und umwegig (qīyasiyya baʿīda) ist, indem sie nur zu (einer Kenntnis) der Form des Ziels und nicht seines Wesens führt.
Was die Ziele betrifft, so übermittelt der Koran Wissen von Ihm und Dienst an Ihm. Er verbindet somit die beiden menschlichen Vermögen des Wissens und Handelns; oder Empfindung und Bewegung; oder perzeptiven Willen [perceptive volition] und Tätigkeit; oder Verbales und Praktisches. Wie Allah sagt: »Diene deinem Herrn«. Dienst beinhaltet notwendig Wissen von Ihm, Buße und Demut vor Ihm und Bedürfnis nach Ihm. Das ist das Ziel. Die Kalam-Methode gewährleistet nur den Nutzen der Affirmation und Anerkenntnis der Existenz Allahs. (89; Ibn Taymiyya, Madschmūʿ fatāwā, 2: 12)
Die Offenbarung selbst verfügt über rationale Grundlagen, die dem Gehalt ihrer Botschaft angemessen sind und Menschen mit unterschiedlicher Bildung zufriedenstellen können. Sie beinhaltet auch die erforderlichen Belege für die Grundlagen der Religion (usūl ad-dīn) und bedarf daher keiner weiteren Theorien theologischer oder philosophischer Art.
Rationale Beweise für die Existenz Gottes und die Auferstehung, die auf der Betrachtung der natürlichen Welt basieren, finden sich beispielsweise in einer Reihe von Koranversen. Die Mutakallimun gebrauchen abstrakte Methoden, um zu den gleichen Schlussfolgerungen zu gelangen, welche die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft übersteigen. Dazu gehört etwa das kosmologische Argument (dalīl al-hudūth), das, grob gesagt, auf der Annahme basiert, dass die Kette von Ursachen und Wirkungen nicht endlos zurückgehen kann und somit einen Anfang erfordert, der mit Gott als erster Ursache oder Schöpfer gleichgesetzt wird. Dieser Beweis führt allerdings die Schwierigkeit mit sich, einerseits Gottes Ewigkeit und Unveränderlichkeit und andererseits Gottes Verursachen oder Erschaffen der Welt in der Zeit miteinander in Einklang zu bringen. Die muslimischen Philosophen in der aristotelischen Tradition versuchten beispielsweise das Problem dadurch zu lösen, dass sie die Ewigkeit der Welt annahmen.
Ibn Taymiyya lehnt die Ewigkeit der Welt ab, wie schon al-Ghazālī vor ihm in