Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn
ist gültig. Er hat sie selbst geschrieben. Er bringt damit letztlich folgendes zum Ausdruck: Ich habe mein ganzes Leben vergeudet; nichts ist besser und einfacher als der Koran.
Und Ibn Taymiyya schließt an:
Sie alle haben am Ende ihres Lebens bereut und dies gesagt; warum folgst du denn nicht ihrer Reue?
1.3.2.2.12 Vernunft und Gewissheit
Ibn Taymiyya hält seinen Gegnern zudem vor:
Vieles von dem, wovon ihr behauptet, dass es intellektuell (vernunftbasiert) sei, ist nicht intellektuell (vernunftbasiert, ʿaqlī), sondern dhannī (mutmaßend, ungewiss). Es ist nicht auf Vernunft gegründetes sicheres Wissen, sondern basiert bloß auf Vermutung.
Ihr habt diese Konzepte absichtlich mit schwieriger Sprache verdunkelt, mit einer Art des Schreibens und der Rhetorik, die für den durchschnittlichen Leser schwierig ist. Und wenn euch jemand mit etwas herausfordert, was trivial und grundlegend (basal) ist, dann verwerft ihr dies einfach, indem ihr sagt: Das hast du nicht richtig verstanden, das ist zu kompliziert für dich.
Wenn ein einfacher Student kommt und die Falschheit des Ganzen durch einfache Fragen aufzeigt, dann wird er abgewiesen. Und da es jetzt eine Gilde gibt, muss er, wenn er dazugehören will, die Anerkennung dieser Gilde finden, indem er sich anpasst und einfügt.
1.3.2.3 Kategorisierung der Kritikpunkte
Die 44 Punkte, die im Darʾ behandelt werden, lassen sich in breitere Motive zusammenfassen. Eine Kategorisierung in sechs Gruppen bietet sich an:
1.3.2.3.1 Glaubensgestützte Argumente
Es folgt eine Reihe von glaubensgestützten Argumenten. Sie betreffen 17 von 44 Punkten.
Der Koran oder der Prophet Muhammad (sas) wird in das Argument einbezogen, wie im folgenden Beispiel:
Wenn der Prophet definitiv gesprochen hat, dann kann ihm nichts widersprechen, denn dies würde die Wahrheit seines Prophetentums untergraben. Wenn er wirklich als rasūl Allāh (Gesandter Allahs) spricht, dann spricht er die Wahrheit.
Das Wesen des Islam ist istislām, Unterwerfung unter Allah und Seinen Propheten. Daher ist ein bedingter Glaube an den Propheten kein Glaube an den Propheten. Glaube ist also nicht: Ich glaube so lange an ihn, als mein ʿaql damit übereinstimmt.
Dazu lässt sich eine Geschichte erzählen:
Ein Beduine kam zum Propheten und sagte zu ihm: »Ich glaube an dich, wenn du mich zum König nach dir machst.« Dieser Glaube als bedingter wird nicht anerkannt.
Die Absicht des Propheten war, genau die theologischen Fragen zu erklären, welche die Philosophen und mutakallimūn problematisch finden. Seine Rolle bestand darin, ʿilm al-ghayb (Wissen des Verborgenen) in dem höchstmöglichen Maße zu erklären, in dem wir es wissen müssen. Und seine eigentliche Rolle würde dadurch geschmälert, wenn wir sagten, dass er in dieser Rolle nicht anerkannt werden könnte.
Der Koran beschreibt sich selbst als Quelle der Rechtleitung, Licht, Barmherzigkeit, in klarem Arabisch, leicht zu verstehen. Aber ihr behauptet, dass der Koran widersprüchlich und ein Buch von Symbolen und Interpretationen sei. Doch der Koran beschreibt sich selbst nie auf diese Weise.
Der Koran selbst kritisiert die Leute, die meinen, dass seine Botschaft irregeleitet sei. Er kritisiert die Leute des Buches (ahl al-kitāb), weil sie mit ihrem Buch tun, was die Leute mittels al-qānūn al-kullī mit dem Koran machen: etwas ändern, hinzufügen, weglassen. Wenn man davon ausgeht, dass es einen Konflikt zwischen ʿaql und naql gibt, so muss man mit dem Koran machen, was jene Leute mit ihrem Buch getan haben.
Das waren glaubensgestützte Argumente, die im Kern etwa besagen:
Der Glaube an den qānūn macht den Glauben an Koran und Sunna sinnlos. Zu sagen, dass ʿaql über naql steht, macht naql nutzlos.
1.3.2.3.2 Kritik der Prämissen und der Struktur des qānūn
Ibn Taymiyya greift die Prämissen des qānūn und die Struktur seiner Formulierung an, wie beispielsweise die binäre Unterscheidung von ʿaql und naql, die er für falsch erachtet.
Die apriorische Annahme der mutakallimūn, dass der Koran nicht richtig verstanden werden könne, weil er symbolisch und schwer verständlich sei, ist ebenfalls falsch. Denn der Koran ist in klarem Arabisch. Der Koran selbst sagt, dass er verständlich ist.
1.3.2.3.3 Was ist ʿaql? Was ist Vernunft?
Mindestens acht Punkte beziehen sich auf die Frage nach der Definition von ʿaql, von Rationalität:
Was ist ʿaql? Was ist Vernunft?
ʿaql ist nicht eine einzige unteilbare Entität. Jede Gruppe hat ein anderes Verständnis davon, was ʿaql ist.
Zudem sind ʿaqlī-Aussagen nicht absolut, sondern relativ. Was für einen ʿaqlī ist, muss es nicht für einen anderen sein; ʿaql ist relativ in Bezug Zeit und Kontext.
Es ist vielmehr die Offenbarung, die unveränderlich ist. ʿaql jedoch ändert sich fortwährend.
Vieles von dem, was als ʿaqlī gilt, stellt sich bei genauerer Betrachtung als dhannī (mutmaßend, ungewiss) heraus. Es ist einfach hawā, Wunsch, in pseudo-intellektuelle Sprache gehüllt, aber nicht wirklich wissenschaftlich. Es kann sogar gezeigt werden, dass es irrational oder widersprüchlich ist.
1.3.2.4 Koran und Wissenschaft
Ibn Taymiyya erachtet folgendes Argument als noch überzeugender:
Die Leute, die dem Koran widersprechen, tun dies in Bereichen, die pseudo-wissenschaftlich sind, also in der Theologie, nicht in der Mathematik oder Astronomie. Der Koran kann nie der Wissenschaft widersprechen.
Das Verhältnis von Koran und Wissenschaft ist heute wegen der Evolutionstheorie ein großes Thema. Zu Ibn Taymiyyas Zeiten gab es nichts, was dem Koran wissenschaftlich widersprochen hat. In unserer Zeit stellt sich diese Frage aber wegen der Evolutionstheorie. Vor der Evolutionstheorie war es praktisch unmöglich, eine wissenschaftliche yaqīnī-Evidenz (sichere, gewisse Evidenz) zu finden, die im Widerspruch zu etwas klar Koranischem stand.
Die Evolutionstheorie wirft also zum ersten Mal in unserer Geschichte dieses Problem auf. Zuvor hat es nie etwas wissenschaftlich so Solides gegeben, was im Widerspruch zur expliziten Schrift zu stehen scheint.
Daher kann Ibn Taymiyya voller Überzeugung schreiben, dass die physikalischen Wissenschaften - Physik, Chemie, Biologie – nie im Widerspruch zu Koran und Sunna standen. Die Theologie hingegen ist nur Pseudo-Wissenschaft, eine philosophische Wissenschaft. Wer behauptet, dass es damit einen Konflikt gibt, darf nicht übersehen, dass allerdings die echten Wissenschaften nie mit Koran und Sunna konfligieren.
1.3.2.5 Wird die Offenbarung durch den qānūn überflüssig?
Der qānūn führt problematische und kritikwürdige Korollarien mit sich: die notwendigen Verifikationen des qānūn. Wenn jeder Text des Koran vom ʿaql her verifiziert werden muss, dann hat man die Integrität des ganzen Koran verletzt. Dadurch wird die Offenbarung des Koran überflüssig gemacht. Wenn ʿaql jede einzelne āya beurteilt, was ist dann der Sinn der Offenbarung des Koran?
Das würde dazu führen, dass jede einzelne Person ihren eigenen Islam hätte. Denn der ʿaql jeder Person ist unterschiedlich. Das Folgen des Propheten wäre überflüssig. Und wahy, Offenbarung wäre sinnlos.
Es gibt noch weitere Punkte, die hier nicht mehr angeführt werden können.
1.3.3 Denken geht vor Handeln
In Punkt 38 gibt es einen Absatz, der sehr bedeutungsvoll für den modernen Islam ist.
Es steht fest, dass al-masāʾil