Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn
was sie in Wirklichkeit nicht sind. Das zeigt sich sogleich, wenn man die Oberfläche verlässt und sich mit den zugrundeliegenden Konzepten befasst, die auch in unserer Gegenwart keineswegs ihre Bedeutung verloren haben.
Die islamischen Denker debattierten damals beispielsweise über die sogenannten Attribute Allahs, Vorherbestimmung und Kosmologie. Zu diesen Fragen hatten sich verschiedene Schulen herausgebildet. Die wichtigsten sind: muʿtazila, aschʿarī, atharī.
Ibn Taymiyya gehört zur atharī-Schule (athara = überliefern, berichten; athar = Tradition, Überlieferung). Ibn Taymiyya erörtert die Positionen der verschiedenen Schulen insbesondere in bezug auf die Frage der Namen und Attribute Allahs.
Was hat das mit ʿaql (Vernunft) und naql (Überlieferung, Offenbarung) zu tun? Diese Frage führt zurück zu ar-Rāzī und dessen Asās.
1.2.2 ar-Rāzī über die Regel der Interpretation (qānūn at-taʾwīl)
ar-Rāzī stellt zunächst einige Prämissen auf, z.B. folgende These: Allah kann nicht Raum einnehmen (tahayyuz) oder ein Körper sein (dschism).
Diese Annahmen beweist er sodann mit rationalen Argumenten, aber unter Umständen sogar auch auf der Grundlage der Offenbarung.
Dann zieht er die Schlussfolgerung daraus: Immer wenn die Offenbarung sagt, dass Allah Raum einnimmt oder ein Körper ist, kann die Vernunft dies nicht wörtlich nehmen.
Der Großteil des Buches von ar-Rāzī ist eine detaillierte Analyse von āyāt (Koranversen) und ahādīth (prophetischen Überlieferungen), die von Namen und Attributen handeln, die nicht wörtlich genommen werden können und daher reinterpretiert werden müssen.
Nehmen wir als Beispiel eine Aussage aus einem von Bukhari überlieferten hadīth (Hadith, prophetische Überlieferung): Allah lacht über jemanden, der etwas tut.
ar-Rāzī stellt demgegenüber die These auf, dass es unmöglich ist, Allah Lachen zuzuschreiben, und begründet diese These, indem er die sprachlichen Bedeutungen von »lachen« anführt und auf deren Unvereinbarkeit mit dem Wesen Allahs hinweist, um daraus die Schlussfolgerung abzuleiten, dass eine Umdeutung der betreffenden Stelle erforderlich ist.
Der Titel des Kapitels, in dem ar-Rāzī dieses Thema behandelt, lautet:
Wenn rationale Beweise (dalāʾil ʿaqliyya) in Widerspruch zu textlichen Beweisen (dalāʾil naqliyya) stehen, was muss dann getan werden?
ar-Rāzī stellt darin fest:
Wisse, dass, wenn unbezweifelbare rationale Beweise (ʿilm yaqīnī) uns dazu führen, etwas festzustellen, und wir dann textliche Belege finden, die mit unseren rationalen Beweisen in Konflikt zu stehen scheinen, es dann vier mögliche Szenarien gibt.
Nämlich:
1. Rationale und textliche Beweise werden geglaubt. Das ist aber widersprüchlich, also logisch unmöglich.
2. Die äußere Bedeutung der textlichen Belege wird abgelehnt, aber die rationalen Beweise werden angenommen. Also naql wird abgelehnt und ʿaql angenommen. ar-Rāzī kommentiert dies nicht weiter.
3. ʿaql und naql werden abgelehnt. Dies ist aber logisch unmöglich.
4. Die Schrift (naql) wird geglaubt, aber die Vernunft (ʿaql) abgelehnt.
Das sind die vier logischen Möglichkeiten: ʿaql und naql annehmen; einen von beiden ablehnen, beide ablehnen.
ar-Rāzī fährt daraufhin fort, indem er die vierte Möglichkeit erörtert:
Wenn wir die Bedeutung der Schrift annehmen und unsere Vernunft negieren, dann ist dies auch eine Negierung der Schrift.
Er begründet dies so: Wir erkennen die Wahrheit der Schrift (naql) durch unsere Vernunft (ʿaql); wenn wir folglich ʿaql ablehnen und naql annehmen, dann ist dies gleichbedeutend damit, beide abzulehnen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt für ar-Rāzī.
Wir erkennen, dass der Koran das Wort Allahs (kalām Allāh) ist, mittels unserer Vernunft (ʿaql). Wenn wir also unserem ʿaql folgen und sagen, dass der Koran kalām Allāh ist und dem Gesandten Allahs, rasūl Allāh, (hadīth) glauben, und dann feststellen, dass Koran und Hadith unserem ʿaql widersprechen, also sagen, dass wir naql annehmen und ʿaql daher nicht gültig sein kann, dann haben wir, indem wir ʿaql in diesem Fall ablehnen, die Reputation von ʿaql bei der vorausgehenden Annahme von naql beschädigt.
Das Vermögen der Vernunft wurde geschmälert und sein Wert ruiniert.
Woher wissen wir denn, dass naql wahr ist, wenn wir ʿaql hinsichtlich etwas anderem bezweifeln?
Die erste und dritte Alternative sind für ar-Rāzī logisch unmöglich. Die vierte wurde soeben widerlegt. Die zweite Alternative kommentiert er nicht näher, aber es ist klar, dass sie keine echte Möglichkeit darstellt, denn die Ablehnung der Offenbarung (naql) ist offensichtlich kufr, also gleichbedeutend mit der Ablehnung des Islam.
ar-Rāzī kommt angesichts der Unmöglichkeit der vier Alternativen zu dem Schluss, dass eine fünfte Alternative gefunden werden muss. Und diese lautet so:
Wir bestätigen ʿaql und glauben sodann, dass naql etwas anderes bedeutet, als es sagt, was es bedeutet, also als seine äußere Bedeutung.
Wir lehnen naql nicht ab, sondern nehmen es an und bringen es in Einklang mit ʿaql: Die Bedeutung von naql muss reinterpretiert werden in Übereinstimmung mit dem, was ʿaql sagt.
Wir können dies auf zwei Weisen tun:
1. Wir kümmern uns nicht um die tatsächliche Bedeutung und machen, was die Gelehrten tafwīdh nennen; tafwīdh bedeutet: Allah weiß, was dies bedeutet, aber wir wissen es nicht (z.B. alif lam mim etc.). Welche Bedeutung es auch immer haben mag, jedenfalls nicht seine wörtliche Bedeutung, um die wir uns nicht kümmern müssen (z.B. Allahs Namen und Attribute: istawā (Sitzen), dhahika (Lachen) etc.).
2. Wir nehmen eine Reinterpretation vor: taʾwīl; z.B. istawā (sitzen) wird umgedeutet. An die Stelle der äußeren Bedeutung »Allah sitzt auf dem Thron« tritt mittels Umdeutung (taʾwīl) die allegorische Bedeutung: Allah hat die Herrschaft über Himmel und Erde (d.h. die gesamte Schöpfung) inne (istawā wird damit gleichgesetzt mit istawla).
ar-Rāzī beschließt das Buch Asās mit den Worten:
Das ist al-qānūn al-kullī, die universelle Regel, die in allen unklaren Fällen bei einem Konflikt von ʿaql und naql angewendet wird.
ar-Rāzī propagiert diese Interpretationsregel, die er al-qānūn al-kullī nennt. Sie ist aber nicht seine Idee, sondern stammt ursprünglich von al-Ghazālī. ar-Rāzī hat sie neben etlichen anderen Dingen von al-Ghazālī übernommen.
al-Ghazālī hat ein Buch darüber geschrieben: al-Qānūn al-kullī fi at-taʾwīl. ar-Rāzī übernimmt daraus ganze Abschnitte.
al-Ghazālī stellt darin fest:
Wisse, dass, wenn ein rationaler Beweis etwas feststellt und ein textlicher Beweis in Widerspruch dazu steht, wir dem rationalen Beweis den Vorrang über den textlichen Beweis geben müssen.
Dieses Konzept einer Regel der Reinterpretation, des qānūn at-taʾwīl hat al-Ghazālī entwickelt und ar-Rāzī in seinem Asās von ihm übernommen. Die Abhandlung von al-Ghazālī ist nicht sehr bekannt, wohingegen Asās von ar-Rāzī überaus berühmt ist.
Das ist also der Grund oder Anlass, weshalb Ibn Taymiyya seinen Darʾ ta ʿārudh geschrieben hat.
1.2.3 Über Ibn Taymiyya und die atharitische Schule
Ibn Taymiyya stammt aus einer Familie hanbalitischer Gelehrter.