Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn

Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken - Yusuf Kuhn


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Taymiyya daher nach Damaskus - einem der geistigen Zentren der damaligen muslimischen Welt.

      Ibn Taymiyya wuchs in Damaskus auf und studierte dort. Sein Vater starb früh, und er übernahm von seinem Vater den Lehrstuhl in der Moschee im Alter von 18 oder 19 Jahren. Ibn Taymiyya wurde Lehrer der größten hanbalitischen Moschee in Damaskus. Er war vielseitig gebildet und meisterte alle Wissenschaften des Islam.

      Ibn Taymiyya unterscheidet sich allerdings in entscheidender Hinsicht von allen früheren Hanbaliten. Denn er tat, was frühere Hanbaliten oder Atharis nie getan haben: Er las die Werke seiner Gegner.

      Die früheren hanbalitischen Gelehrten waren in dieser Hinsicht sehr engstirnig. Sie weigerten sich, die Bücher der Philosophen, Griechen oder mutakallimūn zu lesen, da sie diese für unvereinbar mit ihrem Verständnis des Islam hielten und jeden Einfluss auf ihr Denken von vornherein vermeiden wollten.

      Wenn man atharitische Bücher vor Ibn Taymiyya liest, stellt man fest, dass sie sich von seinen Büchern grundlegend unterscheiden. Sie sind sehr simplistisch. Sie bestehen größtenteils aus einer Aneinanderreihung von Zitaten aus Koran und Hadith. Es werden kaum Gedanken entwickelt. Man beschränkt sich auf die Feststellung: »Das ist, was Koran und Hadith sagen; das musst du glauben!«

      Ibn Taymiyya widersetzte sich diesem Trend. Er studierte jede Philosophie und Ideologie, die es damals gab: tasawwuf (Sufismus), Philosophie, griechische Logik, Werke von Aristoteles usw. Dadurch erwarb er einen einmaligen Geist und Stil, den es bis dahin nicht gegeben hat und sogar nach ihm nicht mehr geben sollte.

      Selbst diejenigen, die behaupten, Ibn Taymiyya zu folgen, folgen ihm in Wirklichkeit nicht. Viele davon haben seinen Geist nicht verstanden. Sie glauben ihn zu imitieren, können aber nicht einmal in seine Fußstapfen treten.

      Ibn Taymiyya stellte sich in die atharitische Tradition und griff deren Anliegen auf, allerdings in einer noch nie dagewesenen Art und Weise, da er sein Denken den in seiner Umgebung kursierenden Gedanken aussetzte und begann, die atharitische Glaubenslehre (ʿaqīda) und die atharitische Methodologie zu verteidigen, und zwar in einer Weise, die einmalig ist.

      Ibn Taymiyya war zweifellos ein harter Polemiker. Er kannte keine Nachsicht mit irgendeiner anderen Gruppe. Er glaubte wahrhaftig, dass es einen Islam gibt, einen korrekten Islam. Und jede andere Ideologie, Theologie und Methodologie wurde auf der Waage von Koran und Sunnah gewogen, so wie sie von den früheren Generationen des Islam verstanden wurden: der atharitischen Glaubenslehre, wie er es nannte.

      Seine härteste Kritik richtete sich gegen die falāsifa (Philosophen) wie Ibn Sīnā und die extremen mutasawwifa (Sufis) wie Ibn ʿArabī und Hallādsch. Sie genossen sehr wenig Sympathien bei Ibn Taymiyya – wie übrigens auch bei al-Ghazālī.

      Aber der bloßen Quantität nach betrachtet, richtete sich der weitaus größte Teil seiner Kritik vor allem gegen die sunnitische – wie er selbst – Schule der Aschʿariten. Warum konzentriert er sich auf die ʿaqīda, die ihm am nächsten ist und die er selbst als sunnī anerkennt? Die Aschʿariten gehören ja schließlich zur allgemeinen sunnitischen Strömung.

      1.2.4 Die Entwicklung des Aschʿarismus

      Der Grund dafür liegt in der Geschichte der letzten 150 Jahren, die vor Ibn Taymiyya vergingen. Die aschʿaritische Schule entwickelte sich aus einem sehr kleinen Kern in Nischapur im Laufe von 150 Jahren zur vorherrschenden Strömung des sunnitischen Islam. Noch 300 Jahre vor Ibn Taymiyya war die atharitische Schule die größte Vertretung des sunnitischen Islam. Sie war in Bagdad vorherrschend. Selbst der Kalif war ein Anhänger dieser Schule. Es gibt Glaubenslehren (ʿaqīda), die dies belegen.

      Als die aschʿaritische ʿaqida in Bagdad eingeführt wurde, kam es zu großen Unruhen, zur Fitna von Quschairi. Es dauerte 150 Jahre, bis diese ʿaqīda die Vorherrschaft über die atharitische ʿaqīda gewonnen hat. Zu der Zeit von Ibn Taymiyya war seine ʿaqīda schon in einer schwachen Position, in der Minderheit. Er erkannte daher die Notwendigkeit, sie gegen seinen hauptsächlichen Konkurrenten zu verteidigen. Und der war nicht der Schiismus oder Sufismus, sondern der Aschʿarismus. Das erklärt seine Motivation, sich auf dessen Anspruch auf Vorherrschaft zu konzentrieren.

      1.3 Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql

      Gehen wir nun über zu Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql.

       1.3.1 Zum Titel

      Darʾ taʿārudh ist eines der umfangreichsten Bücher, die Ibn Taymiyya geschrieben hat. Ibn Taymiyya hat viele Abhandlungen und fatāwā (Fatwas) verfasst. Sie füllen in modernem Druck 7-8 Regale. Darʾ taʿārudh allein umfasst dabei ca. 10-11 Bände.

      Der Titel stammt von Ibn Taymiyya selbst: Darʾ taʿārudh al- ʿaql wa an-naql - Vermeidung des Konflikts von Vernunft und Schrift.

      In einem anderen Text nennt er es: muwāfaqa an-naql as-sarīh wa al-ʿaql as-sahīh - Versöhnung der expliziten Schrift mit dem korrekten Intellekt (oder mit anderen Worten: Übereinstimmung der klaren Offenbarung und der richtigen Vernunft).

      Daraus ersieht man sogleich, dass Ibn Taymiyya eine ganz andere Philosophie entwickelt als ar-Rāzī, der von einem Konflikt von ʿaql und naql ausgeht.

       1.3.2 Darstellung des Inhalts

      Ich werde Darʾ taʿārudh in einer knappen Zusammenfassung referieren. In meiner Dissertation habe ich den Inhalt weit ausführlicher dargelegt, indem ich hundert Seiten auf seine Zusammenfassung verwandt habe. Hier möchte ich einige der wichtigsten Punkte umreißen.

       1.3.2.1 Die Interpretationsregel al-qānūn al-kullī

      Ibn Taymiyya zitiert auf der ersten Seite wörtlich den letzten Absatz des Asās von ar-Rāzī, in dem dieser al-qānūn al-kullī (die allgemeine Regel) darstellt. Er bringt mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck, dass es ihm um eine Widerlegung von al-qānūn al-kullī geht.

      Den wesentlichen Gehalt der Interpretationsregel namens al-qānūn al-kullī gibt Ibn Taymiyya folgendermaßen an:

      Wenn ʿaql und naql in einem Widerspruch stehen, müssen wir ʿaql gegenüber naql vorziehen und naql gemäß ʿaql interpretieren.

      Dann kommentiert Ibn Taymiyya:

      Diese Angelegenheit der Interpretation von naql mit ʿaql ist der Eckstein (die Hauptstütze) aller Häresie (ilhād) und Abweichung. Das ist die Prämisse, von der ausgehend allerlei Gruppen Unordnung schaffen. Das ist die Quelle, der die Häresie entspringt.

       1.3.2.2 … und ihre Widerlegung

      Diese These kann auf zweierlei Weise widerlegt werden: allgemein und spezifisch.

       1.3.2.2.1 Abänderung der Religion

      Die Widerlegung auf allgemeine Weise besagt, dass dies schlicht nicht ist, worum es im Islam geht.

      Ibn Taymiyya bezieht sich auf eine detaillierte Analyse des Christentums. Er war ein Kenner der christlichen Polemik. Eines seiner umfangreichsten Bücher ist eine Widerlegung des Christentums: al-Dschawāb as-sahīh li-man baddala dīn al-masīh (Die richtige Antwort an den, der die Religion des Messias abändert).

      Ibn Taymiyya sagt, dass die Umdeutung durch die Anwendung der Interpretationsregel eben genau das ist, was die Christen mit ihrer Religion getan haben. Die Christen haben ihre Doktrinen mittels ihrer Konzile abgefasst (z.B. Konzil von Nicäa usw.). Dann nahmen sie diese Doktrinen als ihr asl (Grundlage). Und daraufhin betrachteten sie ihren naql im Lichte dieses asl. Dadurch sind sie dazu gelangt, Trinität, Erlösung und Erbsünde in die Offenbarung hineinzulesen, obgleich ihre Schrift zu diesen Fragen entweder ganz schweigt oder ambig (mehrdeutig) ist.

      Ibn Taymiyya unternimmt sodann eine spezifische Widerlegung, die in die Einzelheiten geht. 44 Punkte werden in zehn Bänden abgehandelt. Wir werden etwa zehn davon behandeln. Und dann werde ich


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