Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn
mit seiner Umsicht, Ausgewogenheit, Tiefe und Vernünftigkeit nicht im geringsten gerecht.
So stellt Özervarli ganz zu Recht fest:
Als Wiederbeleber der traditionalistischen Schule (ashāb al-hadīth) und Kritiker von al-Ghazālī (gest. 505/1111), Ibn al-ʿArabī (gest. 638/1240) und Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 606/1209) hat das Kraftfeld von Ibn Taymiyyas rationalistischem Projekt mehr Aufmerksamkeit verdient. Die Anerkennung der Komplexität seiner Kritik und insbesondere seiner Ansicht über die Übereinstimmung von Vernunft und Offenbarung steht noch ganz am Anfang. (78)5
An dieser Stelle verweist Özervarli auf eine Reihe von Arbeiten, auch von orientalistischer Seite, die in den letzten Jahren veröffentlicht worden sind und das wachsende Interesse, auch der westlichen Wissenschaft, am hinter dem Schleier der ideologischen Inanspruchnahme und Verleumdung verborgenen »echten« Ibn Taymiyya bezeugen, und fährt dann fort:
Neben anderen originellen Beiträgen ist es in erster Linie seine Verteidigung dessen, was »koranische rationale Theologie« genannt werden mag, womit er einen besonderen Platz in der islamischen Geistesgeschichte verdient. (78)
Özervarli setzt es sich daher in diesem Aufsatz zur Aufgabe, die Grundlagen und Methoden von Ibn Taymiyyas philosophischem und »theologischem« Denken zu untersuchen, wobei er seine Kritik des Kalam in den Mittelpunkt stellt. Dem wollen wir nun näher nachgehen.
2.3 Historischer Hintergrund: Entwicklung des Kalam
Die Anfänge der Debatte über den Gebrauch der Vernunft für das Verstehen des Koran gehen auf das 8. und 9. Jahrhundert zurück, als sich das muʿtazilitische Denken herauszubilden begann, das sich auf Begriffe und Methoden stützte, die aus der griechischen Philosophie stammten und als »rational« angesehen wurden.
Dies stieß auf die Kritik der traditionalistischen Schule, für die insbesondere der Name Ahmad ibn Hanbal (gest. 241/855) steht. Gegen den übermäßigen Gebrauch der Vernunft betonte diese Schule, dass Fragen der Religion nur auf der Grundlage von Koran und Hadith entschieden werden konnten.
Im Rahmen dieser Debatte entwickelte sich eine neue Schule, die von dem ehemaligen Muʿtaziliten Abū al-Hasan al-Aschʿarī ins Leben gerufen wurde und auf einen Ausgleich setzte. Diese Synthese rückte näher an die traditionalistische Anschauung heran, behielt jedoch zugleich den philosophischen Ansatz in veränderter Form bei. Sie wurde daher von traditionalistischen Gelehrten dafür kritisiert, dass sie vorgefasste theologische Ansichten und neue Begriffe in die Glaubenslehre (ʿaqīda) des Islam einführte.
Der aschʿaritische Kalam hat zwar viele Elemente aus der Philosophie übernommen, verfiel aber aufgrund seines Zwittercharakters auf der anderen Seite auch der Kritik von Verfechtern der aristotelischen Philosophie wie beispielsweise Ibn Ruschd. Dadurch wurde die Tendenz, philosophische Elemente in den Kalam aufzunehmen, noch weiter verstärkt, so dass eine zunehmend ununterscheidbare Mischung entstand.
Ibn Taymiyyas Denken muss vor diesem Hintergrund der Herausbildung eines stark philosophisch geprägten Kalam verstanden werden. Mit seiner Kritik an den mutakallimūn (Kalam-Gelehrten) einerseits wie auch an den falāsifa (Philosophen) andererseits verfolgte er das Anliegen, traditionalistische Anschauungen im neuen Gewand eines selbst rationalistischen und durch die Schule der Philosophie gegangenen Denkens wiederzubeleben.
Ibn Taymiyya, der selbst aus der hanbalitischen Schule hervorgegangen ist und ihr zeitlebens mehr oder weniger verhaftet blieb, hatte einen sehr weiten geistigen Horizont, so dass er mit allen wichtigen Strömungen des islamischen Denkens vertraut war. Dazu gehören sicherlich auch die jeweiligen wechselseitigen Kritiken, die beispielsweise al-Aschʿarī an den Muʿtaziliten, al-Ghazālī an den falāsifa und Ibn Ruschd an den Aschʿariten samt al-Ghazālī geübt haben.
Die Beschäftigung mit philosophischen Kontroversen weckte bei Ibn Taymiyya auch eine kritischere Haltung gegenüber der traditionalistischen Schule selbst. Überdies wurde er das Ziel der Kritik dieser Schule, die ihm wiederum eine Verstrickung in Kalam und Philosophie zum Vorwurf machte.
Der vernunftbasierte Ansatz und seine kritische Haltung gegenüber blinder Tradition zeigte sich auch in seinem Rechtsdenken, im fiqh, in dem er sich zuweilen gegen die herrschenden Meinungen der hanbalitischen Rechtsschule (madhhab) wandte und seiner eigenen Urteilsfindung (idschtihād) folgte. Ibn Taymiyyas Offenheit erweist sich auch daran, dass seine Schüler Anhänger verschiedener Rechtsschulen waren.
2.4 Infragestellung der Legitimität des Kalam: Was sind die usūl ad-dīn?
Özervarli macht darauf aufmerksam, welche zentrale Rolle in Ibn Taymiyyas Denken sein Verständnis des Begriffs usūl addīn (etwa: Grundlagen der Religion) spielt. Die Mutakallimun verwandten diesen Ausdruck, um den Gegenstand ihrer Wissenschaft des Kalam zu bezeichnen. Ibn Taymiyya war jedoch der Auffassung, dass die wahren usūl ad-dīn sich davon grundsätzlich unterscheiden. Denn richtig verstanden kommen die usūl ad-dīn von Allah und beinhalten alle notwendigen Grundlagen, auch die rationalen. Sonst hätte die Offenbarung wesentliche Aspekte des Islam vermissen lassen, was seinem Verständnis des Islam zufolge unmöglich ist.
Der Koran und die Sunna bieten rationale Beweise, die den philosophischen Beweisen überlegen sind und diese überflüssig machen. Die im Kalam als usūl ad-dīn beispielsweise vorgebrachten Erklärungen der Attribute Gottes oder der kosmologische Gottesbeweis haben hingegen keine Grundlage in der Offenbarung und können daher nicht als usūl ad-dīn gelten. Der Kalam stützt sich nicht auf die koranische Methode und führt zudem Begriffe der aristotelischen Philosophie wie Körper (dschism), Substanz (dschawhar), Akzidens (ʿaradh) und Attribut (sifa) ein, deren Vereinbarkeit mit der Offenbarung höchst zweifelhaft ist.
Ibn Taymiyya führt dazu aus:
Diese [Grundlagen], die sie usūl ad-dīn nennen, sind in Wirklichkeit nicht Teil der usūl ad-dīn, die Allah Seinen Dienern vorgeschrieben hat […] Wenn verstanden wird, dass das, was usūl ad-dīn im Gebrauch derjenigen, die diesen Ausdruck verwenden, genannt wird, in Unbestimmtheit und Ambiguität besteht, die durch äquivoke Setzung und technische Begriffe verursacht wird, (limā fīhi min al-ischtirāk bihasab al-awdhāʿ wa al-istilāhāt) wird offenkundig, dass die von Allah, Seinem Gesandten und Seinen Gläubigen anerkannten usūl ad-dīn das sind, was vom Propheten überliefert wurde.
Für jeden, der eine Religion ohne die Erlaubnis Allahs stiftet, gilt, dass die erforderlichen usūl ad-dīn nicht vom Propheten überliefert werden konnten. Denn eine solche Religion ist ungültig, [die] von ihr erforderten [Grundlagen] sind ebenfalls ungültig. (81; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh, 1: 41)6
Ibn Taymiyya kritisiert auch die Überdehnung der Bedeutung von Begriffen, die wie beispielsweise hudūth (Entstehen) oder tawhīd (Einzigkeit Gottes) dem Kontext der Offenbarung entnommen werden, um sodann jedoch mit philosophischen Bedeutungen aufgeladen zu werden. Ibn Taymiyya weist diese Bedeutungsverschiebungen, die vom ursprünglichen Sinn wegführen, in vielen Fällen nach.
Die Offenbarung verwendet diese Worte in Übereinstimmung mit der Weise, in der sie von den Arabern verstanden wurden, an die sie in der Absicht, eine klare Botschaft zu vermitteln, gerichtet waren. Die in Kalam und Philosophie begrifflich zugerichteten Ausdrücke unterscheiden sich so grundsätzlich vom koranischen Sprachgebrauch, dass sie nicht als Teil der wahren usūl ad-dīn angesehen werden können.
Darüber hinaus stellt Ibn Taymiyya fest, dass die Methoden des Kalam zu allerlei Verwirrung führen, da jede Kalam-Schule oder sogar jeder einzelne Mutakallim verschiedene Themen und Begriffe in die usūl ad-dīn eingeführt hat und zu jeweils einander widersprechenden Schlussfolgerungen gelangt ist, was zu endlosen Debatten führte. Angesichts der Vielzahl konkurrierender und sich gegenseitig ausschließender Anschauungen erscheint der Anspruch der Mutakallimun auf Gewissheit in ihrer Erkenntnis in einem eigentümlichen Licht.
Ibn Taymiyya bemerkt dazu:
Einige Mutakallimun behaupten, dass alle Fragen der Überlieferung (al-masāʾil al-khabariyya),