In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi

In zwangloser Gesellschaft - Leonhard Hieronymi


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      Leonhard Hieronymi

      In zwangloser Gesellschaft

      Roman

      Hoffmann und Campe

      Für O.L.

      Das kann doch einfach nicht wahr sein.

      Ich finde das blöde Grab von Thomas Mann nicht.

       Christian Kracht

      Let’s say the extremely smooth grass in cemeteries is fake

      grass, and there is no one and nothing underneath it.

       Dennis Cooper

      1 Rom, Kallistus-Katakombe

      Ich wollte ins Reich der Toten hinabsteigen, um mich zu entschuldigen. Vor zehn Jahren hatte ich, in Begleitung meiner zwei Cousins und meines Bruders, während einer Führung durch die Katakombe des heiligen Kallistus einen mir bis heute unbegreiflichen Lachanfall bekommen und alle anderen damit angesteckt. Selbst in den Grabkammern der Päpste konnten wir uns im Moder der Jahrhunderte nicht beherrschen, und das Krächzen meines Bruders, das in Weinkrämpfe überging, ließ mich, trotz der wütenden Ermahnungen des Katakombenführers, vor Bauchschmerzen und Atemnot immer wieder gegen die Steinsärge schlagen. Wir hielten uns aneinander fest wie Besoffene und torkelten durch die Krypten. Der kollektive Anfall war so stark, dass uns der Fremdenführer mit allen möglichen Mitteln zu trennen versuchte – ohne Erfolg. Selbst als uns Totenschädel und mumifizierte Hüftknochen im Vorbeigehen streiften, konnten wir uns nicht zusammenreißen. Wir versuchten uns an die traurigsten Sachen zu erinnern, die jemals passiert waren, nicht nur uns, sondern der Welt und Europa – dem ganzen großen Weltfriedhof Europa! –, aber es war zwecklos.

      Sowohl die Touristen als auch der Führer der Gruppe hassten uns dafür. Sie ließen uns, weil wir uns nur noch gekrümmt fortbewegen konnten, irgendwann hinter der Krypta der heiligen Caecilia stehen, und dann kauerten wir alleine im Dämmerlicht, und das Lachen wurde leiser. Dass wir zurückgelassen wurden, bremste ein wenig unsere Ekstase, obwohl es kaum Abzweigungen gab und man sich nicht großartig verlaufen konnte. Wir hörten die immer schneller werdenden Trippelschritte der Italiener, Chinesen, Japaner, Russen und Franzosen, wir hörten leise Stimmen und Gekicher. Wollten sie uns in einen Hinterhalt locken?

      Irgendwann verstummten die Geräusche der großen Gruppe im Nichts, und wir waren uns sicher, dass man uns hier unten alleine und in der Dunkelheit verschwinden lassen würde. Wir hörten auf zu kichern, mein Bruder wischte sich eine letzte Träne aus den Augenwinkeln, und dann bekamen wir Gänsehaut im Nacken. Keiner von uns traute sich, nach hinten zu schauen, in die Richtung, aus der wir gekommen waren, denn dort lagen nicht nur über eine halbe Million Tote, sondern auch sechzehn Päpste. (Und wir waren in unseren bisherigen Leben alles andere als fromm gewesen – aber alle vier katholisch.)

      Nach einiger Zeit erreichten wir den Fuß der Treppe, die aus der Unterwelt führte. Als mein Cousin Gianni die erste Stufe betrat, ging im gesamten Tunnel- und Katakombensystem des ersten Hauptfriedhofs der christlich-römischen Gemeinde das Licht aus. Dunkelheit umgab uns, wir konnten den Ausgang von hier unten nicht erkennen, draußen dämmerte es bereits. Es war kurz nach Weihnachten.

      Da aber schoss die Luft wieder durch die Lungen, und der nächste, diesmal leicht panische Lachanfall überkam uns, während wir uns an den Wänden der Katakombe nach oben tasteten.

      Anders als Aeneas, der Held der griechisch-römischen Mythologie, waren wir an diesem Abend vor über zehn Jahren nicht geläutert und weinend aus dem Totenreich zurück zu den Lebenden gekehrt, sondern so schlau wie vorher.

      Dann aber, am selben Abend, fragten wir uns doch, ob nicht die Angst vorm Sterben und Verschwinden dieses Lachen ausgelöst hatte.

      Als uns der Hobby-Archäologe, der uns durch die Katakombe geführt hatte, an der Erdoberfläche wiedersah und ihm klar wurde, dass er mit dem Ausschalten des Lichts niemandem hatte Angst einjagen können, blitzte es in seinem Gesicht in der Dämmerung noch einmal vor Wut weiß auf, dann drehte er sich um und schritt ächzend über den Sandboden in Richtung Via Ardeatina davon, wo er zwischen zwei Zypressen in der Dunkelheit verschwand.

      Heute, zehn Jahre später, wohnte Gianni noch immer in der Nähe der Kallistus-Katakombe, in einer Villa an der Via Appia Antica, direkt neben Sophia Loren. Ich war zu Besuch in Rom, und er stand mit seinem Land Rover auf einem Parkplatz in der Nähe und wartete völlig verständnislos darauf, dass ich mich für etwas entschuldigte, das so lange zurücklag und an das er sich selbst kaum noch erinnern konnte. Aber er wusste nicht, wie neurotisch ich war. Für ihn waren Religion, Tod und Kampf gleichbedeutend mit Macht – sie waren bei ihm der Weg zu etwas Höherem, bei mir lösten diese Dinge aber nur Furcht aus.

      Ich ging zu dem Häuschen, an dem man Eintrittskarten für die Katakombe kaufen konnte, aber zwischen zwölf und vierzehn Uhr war Mittagspause.

      Ich setzte mich in den Schatten davor und schaute in den Himmel. Ich befand mich am Ende einer einjährigen Reise zu den Gräbern europäischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, bei denen ich davon ausgegangen war, dass man sie früher oder später vergessen würde – die also im Begriff waren, für immer zu verschwinden.

      Die Katakomben waren die vorletzte Etappe meiner Reise, in ein paar Stunden würde ich den Zug vom Hauptbahnhof Termini nach Rapallo an die ligurische Bucht nehmen, um dort nach der bei jungen deutschen Autorinnen und Autoren so beliebten Qualle Turritopsis dohrnii zu schnorcheln, die Forschern anscheinend Hinweise darauf gab, wie der Mensch zur Unsterblichkeit gelangen konnte.

      Nachdem ich mit meinen Verwandten, die nun mal unweigerlich Teil von mir waren, so furchtbar die Totenruhe gestört hatte, musste ich zwar nicht über den Tod, aber häufig über die Gegensätze von Verschwinden und Unsterblichkeit nachdenken.

      Damals, als wir die Katakombe verlassen hatten, lagen die Weihnachtsfeiertage gerade hinter uns, und die Worte der Nachrichtensprecherin an Heiligabend lagen mir noch in den Ohren, denn immer an Heiligabend, an dem Tag im Jahr, an dem die Sonne im warmen Regen untergeht, wurden im Radio die offiziellen Vermisstenzahlen durchgesagt. Ich dachte an weißrussische Oppositionspolitiker, die sich im Säurebad auflösen; ich dachte an den verschollenen Bergsteiger Joe Tukser, der wahrscheinlich ins Kangshung-Tal abgestürzt war; den ertrunkenen und erfrorenen Daniel Küblböck und den britischen Musiker R.J. Edwards, dessen Auto am Ausgangspunkt der knapp fünfzig Meter hohen und bei Selbstmördern beliebten Severn-Brücke zwischen England und Wales gefunden wurde. Ich las Reportagen über das Verschwinden des Malers Alfred Partikel, der nicht mehr vom Pilzesammeln in Ahrenshoop zurückgekehrt war, oder Zeitungsberichte über den Deutschen Lars Mittank, der nach erlittenem Trommelfellriss und einer durch Mangelernährung ausgelösten Panikattacke über den Zaun des Flughafens im bulgarischen Warna gesprungen, in einem Sonnenblumenfeld verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht war.

      Ausgehend von all diesen Fällen und Entwicklungen und dem Gedanken, dass das endgültige Verschwinden vielleicht eher ein Glück als ein Unglück ist und außerdem einen quasi unerreichbaren Luxus darstellt, beschloss ich, eine Reise zu sowohl den Unsterblichen als auch den Vergessenen und den beinahe Verschwundenen zu unternehmen.

      Ich wollte ihre Gräber finden. Ich wollte wissen, wie nahe man dem Verschwinden wirklich kommen konnte – im Gegenzug wollte ich aber auch die Gräber der seit zweitausend Jahren Unsterblichen besuchen, wie die der römischen Dichter und Philosophen Seneca und Ovid.

      Während ich damals noch überlegte, ob eine solche »Wunderreise« – wie ich sie nennen wollte – wirklich die letzte mögliche Abenteuerreise in der vom Spätkapitalismus errichteten Welt aus künstlich hergestellten Nahtodzuständen, Wagnissen und Gefahren war, rief ich auch schon meinen Bruder an und schlug ihm kurzerhand vor, mich in Frankfurt zu treffen, um dort auf dem Hauptfriedhof zwischen den Grabreihen herumzuschleichen.

      »Ich weiß nicht«, sagte mein Bruder.

      »Überleg es dir, das Angebot bleibt bestehen«, sagte ich. »Du kannst Fotos mit deiner neuen Kamera machen.«

      Ich legte


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