In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi
Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!«
Ähnliche Gedanken über kreisförmige Labyrinthe und die zyklische Zeit finden sich auch schon bei den Pythagoreern oder David Hume. Und als die Punkband Ramones den Schriftsteller King in den achtziger Jahren in seinem Haus besuchte, damit sie sich gegenseitig die Ehre erweisen konnten, schrieb Dee Dee Ramone innerhalb weniger Minuten den Song »Pet Sematary« mit den Lyrics: »I don’t wanna be buried in a pet cemetery, I don’t want to live my life again.« Dafür, dass dieser Song dann für die Goldene Himbeere als schlechtester Filmsong des Jahres 1989 nominiert wurde, enthält er eine zutiefst traurige Nachricht. Denn die (egal zu welchem Zeitpunkt eines Lebens) gezogene Bilanz, das bisher gelebte Leben nicht noch einmal leben zu wollen – und das nicht mal als Punkrocker –, bedeutet nur, dass mehr als fünfzig Prozent eines Lebens entweder aus Langeweile, Banalitäten und grauen, traurigen Augenblicken voller Scham, Gemeinheit und Elend besteht oder spätestens beim zweiten Mal dann nur noch aus womöglich schmerzender Langeweile bestehen würde. Und wer würde das ganz ernsthaft wollen? Es ist der weiseste Song, den es gibt.
Als ich hinter der Kirche durch das Gestrüpp streifte, schüttelte es mich trotz der Hitze. Hier lag kein Kirchhof, sondern der große Garten des von Fontane beschriebenen Herrenhauses Schloss Stechlin, »ein gelb getünchter Bau mit hohem Dach und zwei Blitzableitern«, der auf den Trümmern eines schon längst verschwundenen, wirklichen Backsteinschlosses, mit Rundtürmen und Schlossgraben, erbaut worden war.
Im Garten lagen dort zwei angebräunte Rentner auf weißen Liegestühlen und sonnten sich. Bevor sie mich sehen konnten, drehte ich mich um und lief zurück zum See.
Nach meiner ergebnislosen Exkursion holte ich Maria ab. Wir gingen durch den Ort und irgendwann zurück ins Ferienhaus.
Später, als draußen die ersten Blitze quer durch den Himmel schossen und ein schweres Hitzegewitter in der Luft lag, legten wir uns schlafen. Drei oder vier übereinanderliegende Unwetterfronten hingen bei vollkommener Windstille stundenlang über dem See. Es regnete nicht, es stürmte nicht, es donnerte nur ununterbrochen, während die Vögel im anbrechenden Morgengrauen gegen das Gewitter anschrien. Dann, nach drei Stunden, begann es langsam zu regnen, und wir schliefen endlich ein.
Am nächsten Morgen lief ich alleine los, um in der Nähe der Bushaltestelle eine kleine Ortsübersicht zu studieren. Der nächste Friedhof lag in Dagow, einem zu Stechlin gehörenden Ortsteil, der nur ein kleines Stück weit den Wald hinunter lag. Nur dort konnte Hanns Krause noch liegen.
Danach weckte ich Maria, und wir gingen los.
Der Friedhof lag abschüssig in einem Hain. Wir öffneten ein Eisengatter und betrachteten die historische Hinweistafel, auf der ich aber Informationen über Hanns Krause nicht ausmachen konnte. Stattdessen gab es wieder nur den Verweis auf Theodor Fontane und seine Beschreibung desselben Friedhofs in den Wanderungen.
Nach hundert Metern durchs Dickicht hielt mich Maria schon erschrocken am Arm fest. Ich schaute in ihre graugrünblauen Augen – sie zeigte auf mein rechtes Schienbein, dort saßen, in aller Seelenruhe und inbrünstig an mir saugend, mehrere Zuckmücken. Ich schlug wie wild auf sie ein und erwischte dabei die langsamste. Ein großer schwarzer Fleck bildete sich sofort da, wo sie mich gestochen hatte.
»Lass uns hier abhauen!«, rief Maria.
Über eine weitere Eingangstür verließen wir fluchtartig den mückenverseuchten Friedhof und wenig später die Ortsgrenze von Dagow.
Am Nachmittag fuhren wir zurück nach Hamburg. Die Mücken hatten auf unseren Armen und Beinen Dutzende dunkelrote Blutergüsse hinterlassen. Über der ganzen Stadt lagen Gewitter. Ich fand nach stundenlanger Recherche heraus, dass Krause mit seiner Frau auf dem Friedhof in Fürstenberg begraben lag, ganz in der Nähe von Neuglobsow.
Ich lehnte mich zurück. Man muss das Scheitern genießen.
4 Hamburg-Ohlsdorf
Die Vespa sprang nach fünf Minuten endlich an, ich hatte sie seit vergangenem Oktober nicht mehr bewegt. Ich nahm von Süden kommend die ewig lange Fuhlsbüttler Straße und stellte das Moped vor einer Tischtennisplatte des Gartenvereins Klein Borstel ab, wo sich alle paar Minuten die U1 nach Norderstedt schob.
Ich hatte nichts dabei, keine Zigaretten, nichts zu trinken, keine Pfefferminzbonbons. Der Eingang »Kleine Horst«, der direkt von den Schrebergärten auf den Friedhof Ohlsdorf führt, war unscheinbar und schmal, ein Schild wies mahnend darauf hin, das Radrennen zu unterlassen, um Trauernde und die Totenruhe nicht zu stören.
Ich öffnete die App Friedhof Ohlsdorf, die ich mir am Tag zuvor für 2,99 Euro heruntergeladen hatte, und suchte nach Roger Willemsens Grab, es musste ganz in der Nähe sein. Die Existenz der App ist bezeichnend für die Dimensionen dieses Friedhofs: Es ist der größte Parkfriedhof der Welt. Er ist so groß, dass verschiedene Buslinien ihn durchqueren, Radfahrer ihn als Abkürzung durch die Stadt benutzen und es allerlei geheime Winkel gibt, in denen sich Menschen verschiedensten Ritualen hingeben. Jedes Jahr wird hier mindestens ein neues Mausoleum im sechsstelligen Bereich in Auftrag gegeben. Es gibt einen Friedhof für chinesische Seeleute, eine Abteilung für islamische Bestattungen, ein Bombenopfer-Sammelgrab und eins für die Sturmflutopfer von 1962, es gibt britische Soldatengräber, Wassertürme, vorgeschichtliche Gräber, Rosengärten, Mahnmale und einen Gedenkplatz für nicht beerdigte Kinder. Auf fast vierhundert Hektar befinden sich über zweihunderttausend Grabstätten, auf dem gesamten Gelände wurden seit der Gründung des Friedhofs über 1,4 Millionen Menschen beerdigt, täglich kommen ein Dutzend hinzu – aber ich sah keinen einzigen Trauerzug.
Zwischen den Gräbern und im Unterholz der Gruften und Laubtunnel war es schattig, und nur die ausufernden Straßen und Alleen, auf denen die Autos und Busse fuhren, lagen im Licht. An diesem Mittwochnachmittag sah ich anfangs, bis auf die Radfahrer, nur wenige Besucher. Man muss sich an den Friedhof in Ohlsdorf genauso gewöhnen wie an das Betreten einer lichtdurchfluteten Straße nach stundenlangem Stubengehocke. Erst nach und nach fielen mir verdächtige Statuen und Sprüche auf, erst da sah ich auch aus der Erde gerissene Holzkreuze mit Abdrücken von Lippenstift, entdeckte versteckte Champagnerflaschen und verlorene Einkaufszettel. Anfangs jedoch war ich geblendet von der Gewaltigkeit und dem Platz zwischen den Grabsteinen – und lief auch fast an dem von Willemsen vorbei, der eigentlich nicht zu übersehen war.
Der beliebte Schriftsteller war mir ziemlich fremd, allerdings konnte ich mir an seinem Grab sicher sein, dass dort das Verschwinden noch nicht so weit fortgeschritten war. Er war der Antipol zu den beinahe (oder schon gänzlich) verschwundenen Körpern, Gräbern und Erinnerungen anderer verstorbener Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ich im Laufe der Reise noch besuchen wollte.
Der Grabstein war erst knapp ein Jahr alt, daneben eine vom afghanischen Frauenverein gestiftete Bank. Ich dachte an Willemsens Tod, der ihn im Alter von sechzig ereilte, und daran, dass man eigentlich sterben konnte, wann man wollte, es war egal, denn laut Medien ging man immer »zu früh«, man konnte die achtzig überschreiten, aber auch das war heute »zu früh«. Und eigentlich war das nur ein Verehrung heuchelnder Vorwurf an die Toten: »Zu früh! Viel zu früh!« – als hätte man eine Wahl.
In Mandalay, in Burma, im Schatten einer Buddhafigur erklärte ein Wahrsager Willemsen mal: »Älter als achtzig werden? Nein, das ist leider unmöglich für Sie.« Und Willemsen dachte: »Leider. Zum ersten Mal in meinem Leben möchte ich einundachtzig Jahre alt werden. Doch während ich noch mit meiner Lebenserwartung hadere, tunkt der Erleuchtete eine bittere erdbeerförmige Frucht in Salz, und seine Augen sagen: Heul doch!«
Etwa ein halbes Jahr später würde mir mein Freund Joshua, der einen Monat in der Villa Willemsen in Reinbek zu Gast war, vom Sterbezimmer des Autors berichten:
»Da war nichts, das Zimmer wurde quasi entkernt. Irgendwie will man nicht, dass da ein Kult entsteht.«
Mit dem Gedanken spielend, es selbst zu besichtigen und irgendwelche parapsychologischen Verbindungslinien zwischen Todesort und letzter Ruhestätte zu ziehen, erinnerte