In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi

In zwangloser Gesellschaft - Leonhard Hieronymi


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mehr viel finden wirst außer einem Stein. Und darunter vielleicht ein paar übriggebliebene Proteinverbindungen.«

      Dann lachten wir beide. Und es klang nicht anders als vor zehn Jahren.

      2 Frankfurt am Main

      Es war warm, und von allen Stadträndern Frankfurts schoben sich schwere Regenwolken in unsere Richtung. Wir saßen im Auto meines Bruders und hörten das zweite Album der neuseeländischen Band Die! Die! Die!, was ich während der Fahrt zu einem Friedhof als etwas Unangenehmes empfand, aber man bekam die CD nicht mehr aus dem Schlitz der Anlage heraus.

      Wir parkten am südlichen Eingang des Friedhofs zwischen einem Blumengeschäft und einer Pizzeria und gingen zügig in nördliche Richtung, wo wir begannen, nach dem Grab von Robert Gernhardt zu suchen, dem zweitgrößten Dichter Frankfurts.

      Unter anderem waren hier die Schriftstellerinnen Dorothea Schlegel und Ricarda Huch, der Verleger Siegfried Unseld, die Frauenrechtlerin Meta Quarck-Hammerschlag und der Mundartdichter Friedrich Stoltze neben Adorno, Reich-Ranicki und Schopenhauer bestattet worden, aber Gernhardt war mir der Wichtigste. Beziehungsweise um ihn machte ich mir die meisten Sorgen. Denn während er vor zwanzig oder dreißig Jahren noch große Leserschaften erreichte, musste man ihn ein paar Jahre später schon immer wieder auffrischen und seine Gedichte zitieren, um die nächste Generation an ihn zu erinnern. Vielleicht ist es der ewige Fluch derjenigen Literatur, die Ernst und Spaß miteinander verbinden will, die Gernhardt vom großen Weltruhm bis heute fernhält. In diesem Land scheitert diese Literatur ja immer. Warum, das konnte nicht mal Gernhardt selbst sagen, aber er ärgerte sich: »All die Jahre hatte mich weniger der Unverstand der Kritiker bekümmert, als ihr Unwille oder ihr Unvermögen, sich zu den komischen Produkten zu äußern.«

      Gernhardt starb im Sommer 2006, während des Sommermärchens, am Tag des Viertelfinalspiels Deutschland gegen Argentinien. Wahrscheinlich bei Sonnenschein oder im Lärm der Abenddämmerung, begleitet vom Hupen Hunderter Autos im Autokorso.

      Die Grabnummer, die ich mir in mein Notizbuch geschrieben hatte, stimmte zwar, erwies sich aber als vollkommen nutzlos. Die einzelnen Abschnitte des Friedhofs hießen »Gewann«, aber sie folgten keiner Struktur. Wie wild durcheinandergewürfelt lagen mehrere hundert Tote auf diesen mit Gehwegen voneinander abgegrenzten Abschnitten, und da brachte einem die teilweise vierstellige Nummer wenig. Einige der Nummern waren an unscheinbaren Stellen auf die Grabsteine selbst graviert, aber meist wurden sie von Erde und Pflanzen verdeckt.

      Ich beschrieb meinem Bruder detailliert die Stationen meiner geplanten Reise bis hin zur Rückkehr in die Kallistus-Katakombe, dort würde sich ein Kreis schließen.

      Er konnte sich an unseren Lachanfall erinnern, er erkannte die Obsession in der Unternehmung und betrachtete wenigstens das (nicht die Suche an sich) als etwas Natürliches und Nützliches – und, genauso wie ich, überhaupt jedes künstliche Schaffen einer »Aufgabe« für eigentlich alle Personen dieser Erde als etwas Überlebenswichtiges.

      Trotzdem machte meine Suche für ihn keinen Sinn.

      Noch während wir im Gewann A nach dem Grab Nummer 1103 suchten, begann es in Strömen zu regnen. Ich stellte mich unter einen Lindenbaum und berührte dabei seinen Stamm nicht, während mein Bruder weiter die Reihen entlangging.

      In Bratislava hatte ich vor einigen Jahren in der Nähe des unter Denkmalschutz stehenden Gaistor-Friedhofs einmal mehrere Topvar-Biere in der Abenddämmerung getrunken und war dann über den dunklen Friedhof gelaufen. Die Grabsteine hingen dort windschief zwischen den Tannen, man konnte die Inschriften nicht mehr erkennen, und obwohl der Friedhof unter Denkmalschutz stand, befand er sich in einem geisterhaften Auflösungszustand. Plötzlich fühlte ich mich seltsam erschöpft, es war einer der ersten warmen Frühlingstage gewesen, also nahm ich unter einer Tanne Platz und lehnte mich an ihren Stamm. Irgendeine Seele wollte den Friedhof aber verlassen und schien mich als Portal benutzen zu wollen. Über meinen Rücken zog sich ein eisiger Schauer. Sofort schoss ich in einem Anflug von Aberglaube und Pathetik auf und rannte über den Friedhof zum Ausgang und in die Stadt zurück.

      Das seltsame Gefühl hielt aber an. Ich beschloss, fast panisch, Bratislava und die Slowakei noch an diesem Abend zu verlassen, und setzte mich in meinen Ford, um nach Wien zu fahren. Als ich den ersten Gang einlegen wollte, tat sich nichts. Irgendetwas schien zu klemmen. Ich schlug auf das Armaturenbrett ein, es gab einen gewaltigen Schlag, und ich fuhr los. Ich war mir sicher, dass der Geist direkt vom Baum in meinen Körper und von dort aus über die Gangschaltung ins Auto gerast war. Und erst auf der Autobahn und kurz hinter der slowakisch-niederösterreichischen Grenze verflüchtigte sich das seltsame Gefühl, weil ich annahm – und überhaupt allgemein angenommen wird –, dass Seelen nicht mit mehr als fünfzig Stundenkilometer reisen können.

      Seitdem weiß ich: Friedhofsbäume sind keine normalen Bäume. Man sollte es vermeiden, sie zu berühren.

      Ich blickte mich um, mein Bruder war verschwunden.

      Ganz in der Nähe stand eine Frau an einem Familiengrab, das am Rande einer Mauer lag – gegenüber von Familie Neckermann. Es war eine echte Frankfurter Bürgerin. Sie trug eine seltsame Baumwollpopeline-Tunika und ein Foulard aus Seidentwill. Unsere Blicke trafen sich, und sie fragte, ob ich jemanden Bestimmten suchen würde.

      Ich trat ein wenig unter der Linde hervor.

      »Ja, Robert Gernhardt.«

      »Ach, Gernhardt.« Sie überlegte und sagte dann: »Nein, weiß ich leider nicht. Sehen Sie, ich habe so lange gebraucht, um dieses Grab nach der Beerdigung wiederzufinden.« Sie zeigte auf einen großen Stein. »Ich habe mir dann den Weg beim dritten Mal aufgezeichnet. Inzwischen brauche ich meine Wegbeschreibung nicht mehr, aber es ist schon kompliziert, nicht?!«

      »Irgendwie schon.«

      »Na ja, vielleicht geh ich dann das nächste Mal auch noch kurz zum Gernhardt. Auf Wiedersehen.«

      In Frankfurt hatte es um die Gründer der Satiremagazine pardon und Titanic und der daraus entstandenen Neuen Frankfurter Schule, der Gernhardt angehörte, eine jahrzehntelange und gut funktionierende »Verbrüderung zwischen Künstlern und Bürgertum« gegeben. FAZ-Redakteur Platthaus schwärmt in einem kurz nach der Trauerfeier veröffentlichten Text vom vergangenen Beieinander- und Zusammensein, dem gemeinsamen Tennisspielen und Tischtennisspielen, den Gartenpartys und Urlauben und Besuchen und Dinners und den endlosen Nächten in den Kneipen, in denen man heimlich von Gernhardt in ein Schulheft von Brunnen gezeichnet wurde.

      Ich stellte mich zurück unter die Linde. Es regnete immer noch. Die Friedhofsgärtner hatten ihre Arbeit eingestellt und standen mit ihren Wagen unter kleinen Hütten. Ich rief meinen Bruder an, aber er konnte natürlich nur schwer erklären, wo er war, also legte ich wieder auf. Als ich ihn von weitem sah, traute ich mich aus Pietätsgründen nicht zu schreien, ich traute mich auch nicht, zu ihm zu rennen. Ich beobachtete seine Laufwege und beschloss, ihm den Weg abzuschneiden. Ich ging nach rechts an einer Reihe Urnensteinen vorbei und dann nach links, wo ich auf einmal ungeschützt im Regen und am Grab von Arthur Schopenhauer stand. Unweigerlich musste ich an eine seltsame Geschichte denken, die ich zuvor im Internet gelesen hatte: Vor mehr als dreißig Jahren hatte man nämlich das Grab von Schopenhauer geöffnet und, ohne mit der Wimper zu zucken, den (zu diesem Zeitpunkt bereits ehemaligen) Präsidenten der Schopenhauer-Gesellschaft, Arthur Hübscher, einfach mit zu Schopenhauer ins Grab gelegt. »Der Tod hat sie endlich vereint«, hieß es in einer Grabrede, dabei kannten sich die beiden überhaupt nicht. Einen Interpreten zusammen mit dem Verfasser der zu interpretierenden Objekte zu begraben, das kommt schon einer Grabschändung gleich. Gerade Schopenhauer sollte man lieber in Ruhe lassen, schließlich handelt es sich bei ihm um den Mann, der gesagt hat, dass die sogenannten Menschen »fast durchgängig nichts anderes sind als Wassersuppen mit etwas Arsenik«. Schopenhauer hätte es allerdings wie Shakespeare machen sollen, auf dessen Grabplatte ein Fluch graviert ist: »Gesegnet sei der Mann, der schonet diese Steine, und jeder sei verflucht, der stört meine Gebeine.« Bis heute hat sich niemand an die Innereien seines Grabes getraut.

      Zum Glück hielt Schopenhauer die Lehre von der Seelenwanderung


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