In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi

In zwangloser Gesellschaft - Leonhard Hieronymi


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      Später würde ich den Friedhofsverwalter von Bad Oldesloe treffen und ihn nach dem Missbrauch von Bräuchen fragen.

      »Der Schriftsteller von Tschick ist schon tot?«, würde er antworten und dann kurz gegen das aus den Fenstern auf seinen Schreibtisch fallende Licht blinzeln. »Na ja – wir haben es hier mit der sogenannten ›Abladementalität‹ zu tun. Das ist ganz einfach eine Orientierungslosigkeit der Menschen. Sie wissen nicht, wie sie sich an einem Grab benehmen sollen, auch hier geht’s viel um das Ich. Ich war hier, also lege ich zum Zeichen meiner Anwesenheit – nicht unbedingt zum Gedenken! – einen Stein auf das Grab. Oder einen Engel aus Plastik, Schrott halt.«

      Auf Herrndorfs Grab lagen nicht nur Steine, sondern auch Kastanien, Münzen, Marienkäfer aus Holz und Federn. Unterschiedlichste Abladementalitäten waren in letzter Zeit vor diesem Grab zusammengekommen. Es war auch eines der jüngsten Gräber auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, also lagen hier im Vergleich die meisten Gegenstände, die Fans, Verehrer, Vertraute und Trauernde hinterlassen hatten. Bei Hertha und Wolfgang Borchert in Hamburg hatte nichts mehr gelegen außer ein paar Zigarettenstummeln, bei Harry Rowohlt nur ein Fläschchen Whiskey, die Inschrift von Ricarda Huchs Grab in Frankfurt war kaum noch zu erkennen gewesen.

      In der Nähe, im Brecht-Haus, gab irgendjemand ein Konzert, jetzt wurde es auch noch laut auf dem Friedhof. Ich fasste Flexi am Ärmel seines Hemdes und nickte. Er verstand das als Aufforderung zum Verschwinden und ließ seine leer gerauchte Kippe nach ein paar Schritten wieder durch die Luft schwirren. Ich verfolgte sie mit meinem Blick. Sie landete auf dem Kiesweg vor dem Grab von Arnold Zweig.

      »Warte mal«, sagte ich und ging kurz zurück zu Wolfgang Herrndorf.

      Mit einem Donnerschlag wischte ich die Steine von seinem Grabstein.

      »Komm«, sagte ich und meinte damit Flexi, und wir gingen gegenüber ins Quell-Eck, der Gaststätte mit der ältesten und noch immer nicht verschwundenen (weil geschickt in der Nähe eines Friedhofs platzierten) Bierzapfsäule der Stadt.

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