In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi
erinnert sich hier an als Hexen beschuldigte und verbrannte Frauen, an Widerstandskämpferinnen, an die Opfer häuslicher Gewalt, aber auch an die Prinzessin Salme von Oman und Sansibar, die 1866 nach Hamburg floh und dort den Kaufmann Heinrich Ruete heiratete. Ihr eigentliches und in Granit gefasstes Grab lag in der Nähe – und auch sie war Autorin gewesen (Leben im Sultanspalast). Aber »in der Nähe« bedeutete hier nicht »um die Ecke«, also musste ich diesen Besuch verschieben.
Überall im Garten standen alte und vor dem Verschwinden bewahrte Grabsteine bekannter Frauen, aber es gab auch neue Gräber, eins davon war das der Sexarbeiterin Domenica Niehoff: St. Paulis großes Herz, Streetworkerin, Besitzerin der Kneipe Fick (1998–2000) und Autorin von Domenicas Kopfkissenbuch – eine Frau, über die Wolf Wondratschek mal gesagt hat: »Wenn sie mit dem Hintern wackelt, fließen die Flüsse bergauf.«
Wie kann man so was sagen, dachte ich, und warf dem Grabstein der durch die Poesie Wondratscheks missbrauchten Frau einen letzten Blick zu.
Ich drehte mich um, an der Glasscheibe eines kleinen Pavillons wurde auf die baldige Enthüllung einer Gedenktafel für die Maskentänzerin Lavinia Schulz hingewiesen, die, zusammen mit ihrem Mann Walter Holdt, kein Geld für ihre Aufführungen verlangt hatte und deshalb Anfang der zwanziger Jahre beinahe den Hungertod gestorben wäre, hätte sie nicht vorher ihren Mann und dann sich selbst erschossen.
Erschießen und erschießen lassen, der ewige Kreis, die Ewige Wiederkehr auch der Straftaten. Das muss für heute reichen, dachte ich, notierte mir den Termin der Enthüllung und trat den Rückweg an.
In den Abendstunden füllte sich der Friedhof. Fahrradfahrer mit plappernden Kindern im Kindersitz kurvten zwischen letzten Ruhestätten entlang, Autos und Busse fuhren in erhöhtem Takt an mir vorüber: Feierabend!
Ich wählte die verwinkelten und verzweigten Wege zwischen den Paaranlagen, Mausoleen und einem Bereich für anonyme Beisetzungen. Die Sonne stand noch immer hoch und verbrannte die Natur, die von unermüdlichen Grabpflegern vor dem Austrocknen bewahrt werden musste.
Als ich ins Dickicht der schiefen Steine und geschlossenen Laubdecken abtauchte, lagen dort auf einmal, links von mir, zwei Frauen in engen roten Kleidern und mit geschminkten Gesichtern im Gras und schauten mich mit einer Mischung aus Erstaunen und feierlicher Strenge an. Die Lippen tiefrot, sich gegenseitig halb durch Schulterschluss vor mir versteckend, wie in einem impressionistischen Gemälde einer Landpartie.
Ich hustete ihnen ein scheues »Hallo« entgegen und wollte schnell über eine Brücke davongehen, als auf einmal aus den Büschen der gegenüberliegenden Seite ein alter Mann mit Strohhut, grauem Vollbart und Spiegelreflexkamera herausstolperte und ihnen Anweisungen gab.
»Deshalb der laszive Blick«, dachte ich und schlug mir mit der flachen Hand auf die verschwitzte Stirn.
»Nein, Babe«, sagte der alte Fotograf, »Mausi, halloo?! Sooo, genau! Ja – und nicht anders. Bitte, bitte, mach’s einmal so, wie ich’s dir sage!«
Ich wusste nicht, ob ich mich verhört hatte, jedenfalls lachten die zwei Frauen jetzt unentwegt, und ich entschloss mich, nachdem ich schon über die Brücke gegangen war, umzukehren und noch einmal zu schauen und zu fragen, was das denn sollte.
»Entschuldigung«, sagte ich schüchtern, als ich wieder bei ihnen stand. »Darf ich fragen, was Sie hier heute noch so machen?«
»Wir schießen Fotos. Es gibt doch keinen schöneren Ort dafür, oder nicht?«, sagte der alte Fotograf misstrauisch.
»Ja, schon. Aber sind Sie eine Band oder so was?«, wollte ich wissen.
»Nein«, antwortete er genervt, so als hätte ich sie bei etwas wirklich Wichtigem gestört. »Wir kommen auch nicht von hier. Wir machen einen Fotoband.«
Alle drei schüttelten die Köpfe und lächelten gleichzeitig, dabei begannen sich die Frauen im Sitzen umständlich umzuziehen.
»Wir haben uns einfach gefunden, o.k.?«, sagte eine von ihnen, und das war für mich das Signal, den Tatort zu verlassen.
Am Ende riefen sie mir aber doch noch hinterher:
»Viel Glück auf deiner Reise!«
Ich ging zum dritten Mal über die Brücke und wollte nach links abbiegen, als ich dort einen anderen alten Mann sah, mit langen grauen Haaren und Halbglatze. Ich hatte ihn vor etwa einer halben Stunde schon einmal in der Nähe der Teichstraße gesehen. Er stand lang gestreckt da und hob beide Arme hoch in die Luft. In einer Hand hielt er eine Gießkanne, und er redete laut und fordernd auf den Grabstein vor ihm ein. Aber ich war ganz sicher, er befand sich dort alleine.
Entgegen aller Annahmen fand ich schnell zurück zum Fußgängereingang »Kleine Horst«.
Durch den Feierabendverkehr fuhr ich durch Barmbek zurück nach Dulsberg. Die Sonne schien, keine Wolke war am Himmel. Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch, es war immer noch sehr heiß, und ich trank kalten Pfefferminztee. Niemand hatte von mir Besitz ergriffen.
5 Berlin-Mitte
Ich war zu Besuch bei einem alten Freund in Berlin, und da ich mit ihm sowohl zweimal Falcos Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof (einmal mit, einmal ohne Falcos »Mama« an dessen Seite) als auch das Grab von Helmut Schmidt in Hamburg besucht hatte, schonte ich ihn auch an diesem für ihn noch sehr frühen, weil verkaterten Sommermorgen nicht und bat ihn, mich zum Dorotheenstädtischen Friedhof zu begleiten.
In Hamburg hatte Flexi mir gezeigt, dass Helmut Schmidts Grab auf golocal.de mit fünf von fünf Sternen bewertet worden war. In einer der Bewertungen hieß es, es lägen, zur Ehrerweisung, manchmal Mentholzigaretten auf oder hinter seinem Grabstein. Und weil mein alter Freund starker Raucher und deshalb Fan des Altkanzlers ist, hatte er sich an jenem Nachmittag davon überzeugen wollen, und wir fuhren zum Ohlsdorfer Friedhof und liefen etwa eine Stunde lang zu Schmidts Grab, hinter dem letzten Endes keine Zigaretten lagen – was Flexi mit drei von fünf Sternen auf golocal.de dann auch kritisch anmerkte.
Flexi ist eigentlich ein guter Mensch, aber vollkommen pietätlos. Er ist sehr dünn, trägt eine große Brille und einen Schnauzbart, er hat dunkle Locken und rauchte damals noch den ganzen Tag französische Zigaretten. Seine Hobbys zu der Zeit waren, er hatte es selbst gesagt: »Alkohol, Tabak und Computer!«
Mit ihm nahm ich vom Görlitzer Bahnhof erst die U1 bis zum Halleschen Tor, dann die U6 bis zum Naturkundemuseum, von wo aus wir zum Friedhof liefen.
Unsere Münder standen offen, es war der heißeste Tag des Jahres, in den Nachrichten hieß es von Feuerwehrbeamten: »Wir haben eine Extremsituation.« Noch aber hatte der Sommer nicht die Dimension erreicht, die ihn zum Zeitpunkt der Auswertungen zum trockensten aller bisher aufgezeichneten machen würde.
Ich hatte mir wie immer die Namen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller aufgeschrieben, diesmal aber keine Grabnummern, weil ich, aufgrund der relativ geringen Größe bei gleichzeitiger Prominentendichte des Friedhofs, hoffte, sie auch so zu finden.
Nur mit einem hatten wir nicht gerechnet: Ein Friedhof mitten in Berlin ist ein Ort voller Touristen. Wie überall in der Stadt schleppten sie sich auch hier mit ihren Rollkoffern und Zara-Tüten durch die Grabreihen. Die Hartgummireifen gerieten auf den Kieswegen ins Stocken, die Kugellager gaben auf, und die Koffer mit den verpixelten Schwarz-Weiß-Abbildungen von Paris hinterließen mehrere Zentimeter tiefe Schleifspuren auf den Wegen. Auch bei ihnen standen die Münder offen, aber vor Hohlheit.
Der seelen- und leidenschaftslos praktizierte Massentourismus in Europa ist eine der größten Sünden unserer Zeit, und ich ließ es die Touristen, auf deren Instagram-Accounts wahrscheinlich Sprüche wie »Travel as much as you can!« standen, mit heftigen Zischlauten wissen. Niemand von diesen Menschen hatte eine »Aufgabe«, sie waren einfach nur da, sie waren mittelmäßige Existenzen. Sie schauten sich um, und sie verstanden nichts. Die totale Musealisierung Europas war gekommen und auch die Grabstätte nur ein Ausstellungsstück auf dem überfüllten Friedhof.
»Top Lage, aber ein wenig zu unruhig«, sagte Flexi und lachte