Wuhan Diary. Fang Fang

Wuhan Diary - Fang Fang


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bisschen Gesicht lassen sie dir. Sie verfluchen dich bis ins x-te Glied, selbst deine Vorfahren werden nicht verschont. Ich denke, manche Leute haben es verdient, von den Wuhanern in Grund und Boden verflucht zu werden. Gib nicht den Wuhanern die Schuld, wenn deine Vorfahren in den Dreck gezogen werden, such die Schuld bei dir selbst, bei deiner Gedanken- und Verantwortungslosigkeit.

      In den letzten Tagen rücken mir die Toten immer mehr auf den Leib. Die Cousine meiner Nachbarin ist gestorben. Der jüngere Bruder eines Bekannten ist gestorben. Vater, Mutter und Ehefrau eines Freundes sind gestorben, anschließend auch er selbst. Man kommt nicht mehr nach, sie zu beweinen. Auch in normalen Zeiten haben wir den Tod eines lieben Freundes, den Tod von unheilbar Kranken erlebt. Der enge Freund war am Ende seiner Kräfte, der Arzt am Ende seiner Kunst, man fügt sich in das Unvermeidbare. Obwohl wir dieser Entwicklung ohnmächtig gegenüberstehen, können wir sie zumeist akzeptieren, selbst der Kranke fügt sich allmählich ins Unvermeidliche. Aber im Fall der in der Frühphase der Epidemie Infizierten geht es nicht um das Sterben allein, sondern mehr noch um Verzweiflung, um die unerhörten Schreie nach Rettung, das erfolglose Flehen um ärztliche Hilfe, die Unmöglichkeit, an lebenswichtige Medikamente zu gelangen. Zu viele Kranke, zu wenige Betten, die Krankenhäuser waren darauf nicht im Geringsten vorbereitet. Denen, die keine Aufnahme fanden, blieb nur das Warten auf den Tod. All diese Kranken haben mit einem guten, geruhsamen Leben gerechnet; wirst du krank, suchst du den Arzt auf. Sie hatten keine Möglichkeit, sich innerlich aufs Sterben vorzubereiten, und haben sich nicht vorstellen können, eines Tages vergeblich um ärztliche Behandlung zu flehen. Ihr Schmerz und ihre Verzweiflung im Anblick des Todes müssen abgrundtief gewesen sein.

      Heute unterhalte ich mich mit einem guten Bekannten über die Unmöglichkeit, angesichts der täglich eintreffenden Nachrichten den Gefühlen von Bedrückung und Trauer zu entkommen. Die Wendungen »keine Übertragung von Mensch zu Mensch« und »kontrollierbar und eindämmbar« haben sich in Blut und Tränen verwandelt, in grenzenlose Bitterkeit.

      Liebe Netzzensoren, gewisse Dinge auszusprechen müsst ihr den Wuhanern gestatten. Das schafft ihnen etwas Erleichterung. Wir sind nun mehr als zehn Tage von der Außenwelt abgeschnitten, wir haben so viele menschliche Tragödien mit ansehen müssen. Wollt ihr ernsthaft, dass wir alle durchdrehen, weil ihr uns verbietet, unseren Kummer loszuwerden, indem ihr jeden Ausdruck von Unzufriedenheit und jede Reflexion unterdrückt? Lassen wir’s. Durchdrehen löst keine Probleme, was kümmert es sie, wenn wir krepieren. Kein Wort mehr darüber.

      Wir werden an den Tagen, die noch vor uns liegen, weitermachen. Wir werden weiter nach Kräften mit der Regierung kooperieren. Wir werden uns weiter einriegeln und durchhalten – immer in der Hoffnung, dass der Wendepunkt nicht mehr lange auf sich warten lässt und die Abriegelung Wuhans baldmöglichst aufgehoben wird. Vor allem beten wir für die Genesung aller Erkrankten.

      Mit zunehmender Zeit wird das Problem der Nahrungsmittelversorgung akut. Bemerkenswert ist, in wie vielen Wohnanlagen über Nacht fähige und tatkräftige Personen aus dem Boden zu schießen scheinen. Mein drittältester Bruder erzählt, dass sich in seiner Wohnanlage spontan eine Gruppe von Lebensmitteleinkäufern gebildet hat. Jeder, der dieser Gruppe beitritt, erhält eine Nummer und wird am kollektiven Lebensmitteleinkauf beteiligt. Jeder Haushalt hat einen nummerierten Beutel. Die Beutel werden mit den gekauften Lebensmitteln auf einem freien Platz in der Wohnanlage abgelegt, dann holen sich alle in der Reihenfolge der Nummern ihren Beutel ab, ohne sich zu begegnen. Ist man mit dem Einkauf nicht zufrieden, nimmt man zunächst seinen Beutel, begibt sich auf einen anderen freien Platz, ruft den Verantwortlichen an und verlangt Umtausch. Sie haben sich sogar ganze Einkaufsstrategien zurechtgelegt, das Ganze wird ein immer ausgefeilteres System. Auf diese Weise ist die Versorgung mit Lebensmitteln gesichert, ohne dass jeder einzeln in den Supermarkt gehen muss.

      Auch in der Wohnanlage einer Kollegin etabliert sich jetzt so eine Einkaufsgruppe, sie kaufen kollektiv Schweinefleisch und Eier. Bestelllisten für unterschiedliche Menüs sind beigefügt, unterteilt nach in Streifen geschnittenem Fleisch, Hackfleisch, magerem Fleisch und Koteletts, Menge und Preis auf einen Blick klar überschaubar. Sobald sich 20 Personen zusammenfinden, wird die Arbeit aufgeteilt, nach der Anlieferung holt sich jeder seinen Teil ab. Die Kollegin fragt an, ob ich mitmachen will. Natürlich will ich. Schließlich haben wir noch zwei Wochen durchzustehen. Ich wähle eine Portion Schweinefleisch nach Menü C, insgesamt 199 Yuan. Das Leben steckt voller Schwierigkeiten, aber irgendein Weg findet sich immer.

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Die Wende dürfte kurz bevorstehen

      Es hat sich wieder eingetrübt. Aber der Himmel ist einigermaßen klar. Ich suche noch immer erwartungsvoll nach guten Nachrichten. Jemand hat ein Video aufgenommen, worin er darüber phantasiert, was in Wuhan am Tag, an dem Zhong Nanshan das Ende der Quarantäne verkündet, abgehen wird. Buntscheckige Gestalten stürzen in wilden Haufen ins Freie, prahlen mit ihren Heldentaten und stolzieren mit stolzgeschwellter Brust über die Straßen. Man sieht, die Wuhaner können nicht nur ertragen und verfluchen, sondern sich auch die verrücktesten Dinge ausdenken.

      16 Provinzen haben sich untereinander abgestimmt, die Unterstützung von jeweils einer der 16 Städte Hubeis zu übernehmen. Medizinisches Personal drängt danach, sich zu melden, sie schneiden sich die Haare oder scheren sich die Köpfe kahl, man sieht alle Arten von Abschiedsszenen, unzählige Smartphone-Videos werden gemacht, es sind rührende Bilder. Besonders bewegt die Menschen in Hubei, dass die jeweiligen Provinzen nicht nur Personal hierher schicken, sondern die Freiwilligen auch mit medizinischer Ausrüstung und Schutzkleidung, ja selbst mit Dingen des Alltagsbedarfs wie Speiseöl, Salz, Sojasoße und Essig ausstatten, um ihren Bestimmungsorten keine zusätzlichen Lasten aufzubürden. Mehr als 20000 Ärzte und Krankenschwestern strömen nach Hubei. So viel Solidarität und Freundschaft wiegt schwer.

      Dass das medizinische Personal Wuhans schwere und bittere Verluste erlitten hat, war mir seit langem bekannt. Vor ein paar Tagen habe ich darüber geschrieben. Jetzt treffen die Hilfstruppen endlich ein, und sie kommen in Scharen. Nicht nur das Personal der Krankenhäuser kann aufatmen, alle Bürger Hubeis können durchatmen. Die völlig überlasteten einheimischen Ärzte, die am Ende ihrer Kräfte sind, können endlich ein wenig verschnaufen. Die eine Zeitlang verstummten Komiker können wieder anfangen, im Netz ihre Witze zu reißen.

      Die Mobilisierung der Kräfte des ganzen Landes, die eintreffende solidarische Hilfe: Das ist eine Wende zum Guten. Durch die Erweiterung der Behelfskrankenhäuser, die Vermehrung der Krankenhausbetten, das Eintreffen der Hilfstruppen, die wirksamen Quarantänemaßnahmen, die Organisation und Disziplin der Arbeit, dazu die bereitwillige und entschlossene Kooperationsbereitschaft der Wuhaner Bürger und das gemeinsame Vorgehen, zeigt sich eine deutliche Abschwächung der Ausbreitung der Epidemie. In den nächsten Tagen wird das womöglich noch deutlicher. Auch der befreundete Arzt schätzt, dass es rasch vorangehen wird. Langer Rede kurzer Sinn – die Hauptgründe für die lange Dauer der Abriegelung unserer Stadt lauten: 1. die Zeitverschleppung zu Beginn, 2. ungeeignete Quarantänemaßnahmen, die sogar zur dramatischen Zunahme von Infektionen geführt haben, 3. die unzureichenden und rasch erschöpften Ressourcen der Krankenhäuser und die Erkrankungen des Krankenhauspersonals, die zu Verzögerungen bei der medizinischen Betreuung geführt haben.

      All das ändert sich im Moment, der Wende dürfte kurz bevorstehen.

      Ich lese im Netz den Kommentar eines Patienten aus dem Behelfskrankenhaus im Hongshan-Sportkomplex. Er schreibt, seine komplette Familie sei dort und bereite sich darauf vor, in zwei Tagen das Krankenhaus zu verlassen. Weiter schreibt er, dass zahlreiche leicht Erkrankte in den nächsten Tagen als geheilt entlassen würden. Die Behandlung habe aus einer Kombination von westlicher mit traditioneller chinesischer Medizin bestanden, das Essen in der Klinik habe das Restaurant des Yanyangtian-Hotels geliefert.

      Das Yanyangtian ist ein berühmtes Wuhaner Restaurant mit erstklassiger Küche. Der Patient erklärt, er habe besser gegessen als zu Hause und mächtig zugenommen. Sein Kommentar dürfte viele Leser ermutigen. Ich höre dauernd, dass viele Patienten vor den Behelfskrankenhäusern zurückschrecken und es vorziehen, zu Hause zu bleiben, weil sie den Eindruck haben, dort seien die


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