Wuhan Diary. Fang Fang
Betreuung durch medizinisches Personal ganz abgesehen. Jedenfalls besser als krank daheim zu liegen. Die Behelfskrankenhäuser verfügen über großzügige Räumlichkeiten, die sich sogar für Tanzveranstaltungen eignen. Die älteren Damen sitzen nicht untätig herum und nutzen sie entsprechend. Das Ansehen dieses Videos bereitete mir eine riesige Überraschung, Wuhans ältere Damen schrecken weder vor dem Virus noch vor Gemeinschaftstänzen in der Klinik zurück. Man sollte diese Tänze »Behelfskabinentänze« nennen.
Man könnte denken, ich neigte nun – abgeschreckt durch die ständigen Löschungen meiner Blogeinträge – dazu, ausschließlich erfreuliche Nachrichten weiterzuverbreiten. In Wahrheit versende ich sie, um meine aufrichtige Freude mit anderen zu teilen, wir haben allzu lange auf solche Nachrichten warten müssen. Im Netz kursiert alles Mögliche, alle Arten von Schrecken verbreitenden Meinungen, neben fundierten und überzeugenden Analysen von Fachleuten auch jede Art dümmlicher Gerüchte. Menschen, die sich in Wuhan aufhalten, bringen in ihren Chats zum Ausdruck, dass sie die Nase voll von derlei Nachrichten haben. Unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich jetzt ausschließlich auf uns selbst. Und darauf, ob sich die Zahl der Kranken verringert, ob sie bereits in die Krankenhäuser eingeliefert wurden, ob sie effektiv behandelt werden, ob die Sterberate abnimmt. Ob die Lebensmittellieferungen pünktlich eintreffen und wann wir endlich unsere Wohnungen verlassen können.
Dennoch ängstigen uns die schlechten Nachrichten nach wie vor. Der Experte für Organtransplantation des Tongji-Krankenhauses, Professor Lin Zhenbin, ist heute Mittag gestorben. 62 Jahre alt, in einem Alter also, in dem sich höchste geistige Kräfte mit dem Reichtum an Erfahrung verbinden, ein wahrhaft schmerzhafter Verlust. Das Tongji-Krankenhaus ist an die Zentralchinesische Hochschule für Wissenschaft und Technik angebunden. Sie hat innerhalb von drei Tagen zwei Geistesgrößen verloren, für die Angehörigen der Universität sind das sehr schmerzliche Nachrichten. Auch in Li Wenliangs ophthalmologischer Abteilung am Zentralkrankenhaus sind dem Vernehmen nach zwei weitere Ärzte so schlimm erkrankt, dass sie künstlich beatmet werden müssen. Noch schlimmer ist, dass einige Sponsoren aus Zorn über den Umgang des Krankenhauses mit Li Wenliang erklärt haben, das Krankenhaus finanziell nicht mehr unterstützen zu wollen. (Ich kann die Richtigkeit dieser Information nicht garantieren.) Das Zentralkrankenhaus hat wegen der Knappheit an medizinischer Ausrüstung bereits Alarm geschlagen. Ach, wenn Li Wenliang im Himmel davon erfahren sollte, wird ihn das mehr als sonst jemanden traurig stimmen.
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11 Die Ankunft neuen Lebens ist die größte Hoffnung, die uns der Himmel schenktDas Wetter wie gestern, trübe, aber nicht finster.
Mittags sehe ich auf dem Foto einer von Japanern gespendeten Hilfslieferung den Vers: Geteilt durch blaue Berge teilen wir Wolken und Regen, wie sollte sich das Licht des einen Mondes auf zwei Dörfer aufteilen?27 Ich bin gerührt. Außerdem sehe ich ein Video mit der Dankesrede Joaquin Phoenix’ bei der Oscar-Verleihung. Er erklärt mit tränenerstickter Stimme, dass er für all diejenigen, die keine Stimme haben, sprechen möchte. Auch das rührt mich. Des Weiteren finde ich in einem Artikel ein Zitat Victor Hugos: »Es gibt ein Schweigen, das lügt.« Diesmal bin ich nicht gerührt, sondern beschämt.
Ja, ich kann mich nur schämen.
Ich habe keine Lust mehr auf weitere Videos mit Hilferufen oder Schimpfkanonaden. Ich kenne mich, ich mag noch so rational sein, momentan gerate ich an die Grenzen dessen, was ich ertragen kann. Für Leute, die weit weniger Verstandesmenschen sind als ich, gilt das vermutlich noch mehr. Wir müssen jetzt dringend erhobenen Hauptes nach Hoffnung Ausschau halten. Unseren Blick auf Menschen richten, die trotz aller Schwierigkeiten weiterkämpfen, wie zum Beispiel diejenigen, die gerade das Leishenshan- und das Huoshenshan-Krankenhaus gebaut haben. Auf diejenigen, die ums tägliche Überleben kämpfen und dennoch ihren Beitrag leisten, wie zum Beispiel die alten Leute, die in bitterer Armut leben und dennoch ihre gesamten Lebensersparnisse spenden. (Ich unterstütze den Aufruf, solche Gelder nicht anzunehmen.) Auf die zahllosen Menschen, die zu Tode erschöpft dennoch auf ihrem Posten ausharren, wie zum Beispiel die der Ansteckungsgefahr trotzenden Ärzte und Krankenschwestern. Nicht zu vergessen die Tag und Nacht für die Bereitstellung von Dienstleistungen durch die Straßen eilenden ehrenamtlichen Freiwilligen. Und auf viele andere mehr. Wenn ihr auf sie blickt, wird euch klar werden, dass wir uns in diesem Moment nicht erlauben dürfen, in Panik zu geraten oder zusammenzubrechen, andernfalls wären all ihre Anstrengungen vergebens. Gleichgültig, wie viele Elendsvideos, wie viele furchteinflößende Gerüchte uns erreichen: Wir dürfen weder in Panik verfallen noch zusammenbrechen. Das Einzige, was wir tun können: uns selbst und unsere Familienangehörigen schützen. Den Anweisungen Folge leisten, hundertprozentig kooperieren, die Zähne zusammenbeißen und die Wohnungstür fest verschlossen halten. Heule und schreie, wenn dir danach zumute ist, kümmere dich nicht mehr um den Stand der Epidemie, wenn dir’s zu viel wird, das ist alles in Ordnung. Sieh fern oder schau dir Filme an, zieh dir diese dämlichen Unterhaltungsprogramme rein, über die du früher endlos geschimpft hast, tu alles, was dir hilft, diese Prüfung zu überstehen. Darin besteht wahrscheinlich der Beitrag, den wir leisten müssen.
Im Übrigen wendet sich die Lage tatsächlich gerade zum Besseren. Zwar weniger rasch, als wir es uns gewünscht haben, aber ist es nicht das, worauf wir hoffen? In den Provinzen außerhalb Hubeis hat die Epidemie bereits ihren Wendepunkt erreicht, und Hubei schreitet dank der allseitigen Unterstützung mit großen Schritten darauf zu. Heute haben bereits zahlreiche Personen die Behelfskrankenhäuser verlassen können. Auf den Gesichtern der Geheilten liegt ein Lächeln, kein erzwungenes, sondern ein von Herzen kommendes. Dieses Lächeln konnte man vor nicht allzu langer Zeit überall auf den Straßen sehen, aber heute wirkt es, als käme es aus längst vergessenen Zeiten. Doch bin ich sicher, dieser Neubeginn wird das Lächeln sehr bald wieder auf unsere Straßen zurückbringen.
Weil wir gerade davon sprechen, ich lebe schon über 60 Jahre in Wuhan. Ich habe die Stadt nie mehr verlassen, seit ich als Zweijährige mit meinen Eltern von Nanjing hierhergezogen bin. Hier habe ich den Kindergarten, die Grundschule, die Mittelschule und die Universität besucht, hier habe ich angefangen zu arbeiten, als Packerin (im Viertel Baibuting!), als Reporterin, als Redakteurin, als Schriftstellerin. 30 Jahre habe ich in Hankou nördlich und ebenso lange in Wuchang südlich des Yangtze-Stroms gelebt. Aufgewachsen bin ich im Bezirk Jiang’an, studiert habe ich im Bezirk Hongshan, gearbeitet im Bezirk Jianghan, niedergelassen habe ich mich im Bezirk Wuchang, und in den Bezirk Jiangxia ziehe ich mich zum Schreiben zurück. In den 30 Jahren nach meinem Hochschulabschluss habe ich in verschiedenen Funktionen an zahllosen Versammlungen und Konferenzen teilgenommen. Noch in den verstecktesten Winkeln der Stadt finde ich Nachbarn, Kommilitonen, Arbeits- und Schriftstellerkollegen, Bekannte, Freunde, sogar Menschen, die ich auf Tagungen kennengelernt habe. Ich stolpere buchstäblich an jeder Straßenbiegung über Bekannte. Mir fällt ein, dass ich auch den Vater der jungen Frau kenne, die unter Tränen für ihn um Hilfe rief und die wie ich ein Netztagebuch schreibt. Er war auch Schriftsteller. Als ich in den achtziger Jahren fürs Fernsehen gearbeitet habe, hatte ich Kontakt mit ihm. In den vergangenen Tagen ist mir sein Bild ständig im Kopf herumgeschwirrt. Wäre er jetzt nicht gestorben, hätte ich ihn womöglich vollständig vergessen.
Ich betone stets, dass die Wurzelfasern all meiner Erinnerungen in den Tiefen dieser Stadt verankert sind, sie haben sich durch all diese Bekanntschaften von frühester Kindheit bis ins Alter ausgebreitet. Ich bin eine waschechte Wuhanerin. Vor zwei Tagen hat mir eine Netzbekannte auf Sixin einen kurzen Abschnitt eines Textes geschickt, den ich längst aus dem Gedächtnis verloren hatte. Er stammt aus einer von Chen Xiaoqing moderierten Dokumentarsendung des Zentralfernsehens mit dem Titel Ein Mensch und seine Stadt irgendwann aus dem vorigen Jahrhundert, zu der ich den Text über Wuhan beigetragen habe. Ich habe damals geschrieben: »Ich frage mich manchmal selbst, was ich letztlich an der Stadt mag. Verglichen mit vielen anderen Städten auf der Welt ist Wuhan kein sonderlich angenehmer Ort, vor allem ist das Klima unerträglich. Ist es seine Geschichte, sein kulturelles Erbe? Sein Lokalkolorit? Oder sind es Glanz und Schimmer seiner Seen und Berge? Nichts davon. Die Ursache meiner Liebe zur Stadt ist meine Vertrautheit. Unter allen Städten der Welt fände ich mich nur hier zurecht.