Wuhan Diary. Fang Fang
lachen: das Gesicht Wuhans.« Ich erinnere mich, dass mich der Maler Tang Xiaohe nach der Ausstrahlung der Sendung anrief, um mir zu meinem Text zu gratulieren. Ich hätte genau das ausgedrückt, was er und seine Frau Cheng Li empfänden. Die beiden leben noch länger als ich in Wuhan und sind noch mehr in der Wolle gefärbte Wuhaner.
Und weil wir schon so lange hier ansässig und mit unzähligen Menschen Wuhans so eng verbunden sind, liegt uns das Schicksal der Stadt so sehr am Herzen, teilen wir ihr Leid und ihre tiefe Trauer. Diese natürlichen, offenherzigen, so gern grundlos laut lachenden Wuhaner mit ihrer stakkatohaften Sprechweise, die Auswärtigen glauben macht, sie stritten sich; diese Wuhaner mit ihrem explosiven Temperament, ihrer blutsbrüderlichen Loyalität, ihrem Selbstbewusstsein, das sich weder auf Position noch auf Herkunft oder Vermögen gründet – nur wer sie gründlich kennt, weiß, wie herzlich und aufrichtig sie sind und wie gern sie sich cool geben. Aber heute leiden viele unter ihnen oder kämpfen mit dem Tod. Und ich bzw. wir können ihnen nicht im Geringsten helfen. Wir können uns höchstens im Netz vorsichtig nach ihrem Befinden erkundigen. Und manchmal wagen wir nicht einmal das – aus Furcht, keine Antwort zu erhalten.
Vermutlich kann niemand, der nicht seine Lebenszeit in Wuhan verbracht hat, diese Stimmung nachvollziehen und diesen Schmerz verstehen. Seit 20 Tagen schlafe ich ohne Schlaftabletten nicht mehr ein. Ich werfe mir selbst vor, nicht mutig genug zu sein.
Schluss damit.
Am Nachmittag koche ich mir vier Gerichte, die für die nächsten drei Tage reichen sollen. Seit einigen Tagen gebe ich mir mit dem Kochen keine Mühe mehr. Auch den Reis koche ich auf Vorrat. Das Futter für meinen 16 Jahre alten Hund ist auch zur Neige gegangen. Er ist am Weihnachtstag des Jahres 2003 geboren, eine Art Weihnachtsgeschenk. Damals musste ich mich gerade einer Operation unterziehen. Meine Tochter war allein zu Hause, freudig überrascht und zugleich verängstigt sah sie zu, wie die Welpen eins nach dem anderen zur Welt kamen. Das kleine weiße Hündchen wurde auserwählt, bei uns zu bleiben, weil es aussah wie ein Spielzeughund. Und nun lebt er seit 16 vollen Jahren bei mir. Vor dem Neujahrsfest habe ich bei Taobao Hundefutter für ihn bestellt, aber es wurde bis heute nicht geliefert. Der Versand, sagt der Absender, sei unmöglich. Am Tag vor der Abriegelung habe ich eigens noch welches in der Tierklinik gekauft. Jetzt stellt sich heraus, dass es nicht ausreicht. Der Tierarzt in der Klinik erklärt mir am Telefon, ich solle ihm Reis zu essen geben, das sei ausreichend. Also achte ich beim Reiskochen darauf, dass auch für ihn eine Portion dabei ist.
Beim Kochen erhalte ich den Anruf einer Kollegin: Ihre Kommilitonin hat heute in einer gynäkologischen Klinik komplikationslos per Kaiserschnitt ein acht Pfund schweres Pummelchen zur Welt gebracht. Die Ankunft eines neuen Lebens stimme einen fröhlich, sagt sie.
Das ist die beste Nachricht des Tages. Stimmt, keine größere Hoffnung schenkt uns der Himmel als die Ankunft eines neuen Lebens.
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12 Der Schmerz der Wuhaner lässt sich nicht durch das Deklamieren politischer Parolen lindern21. Tag der Abriegelung. Ich bemerke an mir ein leichtes Gefühl geistiger Abwesenheit. So lange sind wir nun schon abgeriegelt und können noch immer in unseren Chatgruppen herumalbern! Uns gegenseitig aufziehen! Ausgelassene Kommentare über unser selbst zubereitetes Essen abgeben! Wir vollbringen wirklich Spitzenleistungen. Ich liege auf dem Bett, nehme das Smartphone und lese in einer Chatgruppe die Nachricht einer Kollegin, dass sie gerade zwischen Küche und Schlafzimmer drei Kilometer zurückgelegt hat. Diese Leistung übertrifft die unseren bei weitem. Das Gefühl eines solchen Dauerlaufs ist etwas völlig anderes als die Umrundung des Ostsees mit Blick in die Landschaft. Ich bin eben alt geworden, denke ich. Mir würde dabei schwindlig.
Heute hellt es sich auf. Am Nachmittag kommt ein Weilchen die Sonne hervor und verleiht dem Winterhimmel einen gewissen Charme. Die Anweisung, dass niemand mehr seine Wohnanlage verlassen darf, ist schon gestern an alle Viertel ergangen und dient der Verschärfung der Quarantäne. Nachdem wir so viele Tage durchgestanden und so viele Tragödien gesehen haben, bringt jeder dafür Verständnis auf und akzeptiert sie bereitwillig.
Man macht sich Gedanken über das Problem der Nahrungsversorgung und verfügt, dass in den Wohnanlagen, entsprechend den jeweiligen konkreten Umständen, jede Familie jeden dritten bzw. fünften Tag eine Person zum Einkaufen schicken darf. Aufgrund dessen müssen die Wuhaner jetzt getrennt verderbliche und haltbare Lebensmittel einkaufen. Heute schickt meine Kollegin ihren Mann als »lebenden Lei Feng«28 zum Einkaufen. Er kauft nicht nur für seine Familie ein, sondern auch für mich und die Familie von Chu Feng und bringt die Lebensmittel an unsere Haustüren. Ich gehöre zur besonders ansteckungsgefährdeten Risikogruppe, Chu Fang hat ein Hüftleiden, das ihre Bewegungsfähigkeit einschränkt. In der Einkaufstüte finden sich Fleisch, Eier, Hühnerflügel, Gemüse und Obst. So vollständig versorgt war ich selbst zu Zeiten der offenen Stadt nie. Für mich, die täglich mit 100 Gramm Reis und ein wenig Fleisch und Gemüse auskommt, reicht das, mich drei Monate zu ernähren.
Mein ältester Bruder teilt mir mit, dass in seiner Wohnanlage nur ein Tor geöffnet ist, nur ein Mitglied jeder Familie darf alle drei Tage die Anlage verlassen. Mein anderer Bruder erzählt, dass bei ihnen ein junger Bursche täglich sämtliche Lebensmitteleinkäufe für alle Bewohner erledigt. Jede Familie erstellt eine Liste, entsprechend der er die Einkäufe tätigt. Die Liste meines Bruders besteht aus einer Menge Gemüse, Eiern, Gewürzen, Desinfektionsmittel und Instantnudeln. Die Einkäufe kann man dann am Eingangstor der Wohnanlage abholen. Mein Bruder beklagt sich, dass sie nun wieder für längere Zeit die Wohnung nicht verlassen können. Die Wohnanlage, wo der junge Bursche wohnt, liegt gegenüber dem Zentralkrankenhaus, sie rangierte vor zwei Tagen auf Platz eins der am meisten gefährdeten Wohnanlagen. Ich habe die Worte meines Bruders Ohr: »Stehen wir’s gemeinsam durch und hoffen, dass Ende Februar endgültig die Wende zum Besseren eintritt.«
Das ist, kurz und bündig, vermutlich jedermanns Wunsch.
In diesen schweren Tagen zeigen sich überall gutherzige und hilfsbereite Menschen. Die Schriftstellerin Zhang Manling29 schickt mir aus der Provinz Yunnan ein Video über eine Spendenaktion aus dem Kreis Yingjiang, wohin sie während der Kulturevolution als Jugendliche verschickt wurde: Nahezu 100 Tonnen an Kartoffeln und Reis kamen zusammen. Sie bemerkt dazu, es handele sich um den Kreis, wo sich die Geschichte abgespielt hat, die als Vorlage des Films Trauerzeremonie für eine Jugend diente. Ein Film, den alle Angehörigen meiner Generation gesehen haben, eine Dokumentation der Jugend dieser Generation. Ich bin oft in Yunnan, aber vom Kreis Yingjiang habe ich noch nie gehört. Ab jetzt ist er fest in meiner Erinnerung verankert.
Auch beim Essen browse ich weiter durchs Netz. Zumeist alte Nachrichten der letzten Tage, darunter noch immer viele Sensationsmeldungen. Sie werden wieder und wieder gepostet, mit geänderten Titeln, in veränderten Formaten oder mit vertauschten oder willkürlich eingestreuten Schriftzeichen.30 Reicht der Smartphone-Speicher nicht mehr aus, verhalten die Absender sich selbst wie Netzzensoren und entfachen einen Lösch-Overkill.
Wenig neue Inhalte. Die Epidemie steuert auf eine Wende zum Positiven zu. Anscheinend lässt das aggressive Virus Ermüdungserscheinungen erkennen. Vermutlich wird der Wendepunkt in wenigen Tagen erreicht sein, auch wenn die Todesfälle unter den Schwerkranken nicht abnehmen. Etwas allerdings beunruhigt mich: Die Hilferufe werden zwar weniger, aber auch die selbstironischen Bemerkungen der Wuhaner nehmen ab. Das löst bei mir zwei Empfindungen aus: Erstens, die Arbeit verläuft in geregelteren Bahnen, es scheint, als bewegten sich die Dinge in die richtige Richtung. Sobald der Hilferuf eines Erkrankten ertönt, sind Helfer zur Stelle. Zweitens, die Wuhaner werden offenbar schwermütig.
Es gibt in Wuhan nahezu niemanden, der keinen brennenden Schmerz in seinem Innern trägt. Niemand entkommt ihm. Das gilt für die Gesunden, die seit 20 Tagen an ihre Wohnungen gefesselt sind (einschließlich der Kinder), für die Kranken, die zu Beginn bei eiskaltem Regen auf den Straßen herumirren mussten, und noch mehr für die Angehörigen, die zusehen müssen, wie ihre Liebsten in Leichensäcke verpackt auf Lastwagen abtransportiert werden, und für das ohnmächtige Krankenhauspersonal, das zusehen muss, wie einer nach dem anderen unter