Der wilde Weg der Honigbienen. Christoph Nietfeld
dass es einfach schön aussehen würde, wenn Bienen in einen Baumstamm ein- und ausfliegen. Intuitiv war es zwar schon einmal ein guter Ansatz gewesen, doch hatte ich den Baumstamm so gestalten wollen, dass ich Rähmchen in ihn hineinhängen konnte, um ihn konventionell zu nutzen. Das Projekt scheiterte seinerzeit, weil ich keinen Baumstamm in der passenden Größe gefunden hatte. Jetzt stand nicht mehr die Absicht, Honig mit der Klotzbeute zu ernten, im Vordergrund und die alte Idee schwirrte wieder in meinem Kopf herum. Ich konnte gar nicht verstehen, warum diese Idee bei mir in Vergessenheit geraten konnte und ich nicht schon während des Gesprächs mit Uwe darauf gekommen war. Nein, sie fiel mir genau in diesem Moment ein! Ich fühlte mich von der Idee wie getragen. An Einschlafen war nicht zu denken. Meine Gedanken kreisten darum, wie ich das Projekt „Klotzbeute“ realisieren konnte. Dass sich die Ereignisse bereits in den nächsten Tagen überschlagen sollten, ahnte ich dabei noch nicht.
Als ich einige Tage später eine Radtour unternahm, um meine neue Umgebung zu erkunden, entdeckte ich in einem nahe gelegenen Waldstück einen Holzstapel, auf dem ein hohler Baumstamm lag. Ich hielt natürlich sofort an und begutachtete den Fund. Er übte eine unheimliche Anziehungskraft auf mich aus, vielleicht hatte ich ihn genau deshalb gefunden. Ich glaubte es kaum, aber der Baumstamm war perfekt für meine Klotzbeute geeignet. Das konnte kein Zufall gewesen sein. Am liebsten hätte ich ihn sofort mitgenommen, aber er wog bestimmt seine hundert Kilo, sodass ich ihn mir nicht einfach über die Schulter werfen konnte. Außerdem war mir bei aller Euphorie klar, dass ich erst einmal klären musste, wem der Wald und das Holz überhaupt gehörten, bevor ich mir etwas davon „in die Tasche steckte“. Mit diesen Gedanken im Kopf und klopfendem Herzen musste ich den Baumstamm also vorerst zurücklassen.
Am darauffolgenden Abend wollte ich eigentlich nur Kirschen pflücken gehen. Nicht weit von unserer Wohnung entfernt, hatte ich einen Baum entdeckt, der fürchterlich köstliche Kirschen trug. Der Baum befand sich an einem Weg, mitten auf einem Hügel mit einem herrlichen Blick hinunter ins Tal. Unter ihm stand eine Bank. Ich kletterte mit ein paar schwungvollen Griffen den Baum hinauf, denn das hatte ich als Kind ausgiebig geübt. Als ich im Baum saß und gerade die ersten Kirschen naschte, fragte plötzlich jemand: „Stört es dich, wenn ich dein Fahrrad beiseitestelle und mich auf die Bank setze?“ Ich schaute nach unten und antwortete: „Stört es dich, wenn ich weiter Kirschen pflücke?“ Als ich den Baum heruntergeklettert war, kamen die freundliche Bankbesetzerin und ich ins Gespräch und ich fand heraus, dass sie in der Nähe mehrere Bienenvölker hatte und diese wesensgemäß hielt. Was für ein wunderbarer Zufall! Der neu eingeschlagene Weg schien sich zu verdichten und damit seine Anziehungskraft. Ich war gespannt, was als Nächstes passieren würde.
Nun musste ich schnellstmöglich herausfinden, wem der Wald und das Holz gehörten. Da die Welt ja bekanntlich sehr klein ist und ich mit meiner Familie hier offensichtlich auf dem Dorf gelandet war, stellte sich nach kurzer Zeit heraus, dass der Besitzer des Waldes der Nachbar der Kollegin war, die auch den Kontakt zu Uwe hergestellt hatte. Das Holz gehörte wiederum seinem Pächter, dessen Putzfrau mit dem Schwager meiner Kollegin verbandelt war … O. k., Scherz beiseite! Ich traf mich also nach einem kurzen Telefonat am Holzstapel mit dessen Besitzer. Er stellte sich mir als Oliver vor und war bereit dazu, mir etwas von seinem Holz zu verkaufen. Aber mehr noch: Da ich nicht über die nötigen Transportkapazitäten verfügte – wir selber fuhren einen Kleinwagen ohne Anhängerkupplung –, war er sogar bereit, den Baumstamm zu mir nach Hause zu fahren.
Begrenzt wurde die Länge „meines“ Stammes nur durch die Größe des Kofferraums von Olivers Auto, denn dieses konnte nur etwa 1,40 Meter fassen. Doch das Fassungsvermögen von Olivers Kofferraum und meine Vorstellung davon, wie hoch die Klotzbeute sein sollte, passten auch irgendwie gut zusammen. Oliver sägte mir mit seiner Kettensäge also den unteren Teil des Baumstammes ab und transportierte ihn mit meiner Hilfe in seinem Auto auf unseren Hinterhof. Mit vereinten Kräften bugsierten wir den Baumstamm aus dem Auto, den wir nicht einmal zu zweit im Ganzen anheben konnten. Immer wieder mussten wir den Stamm daher gemeinsam an einer Seite anheben, hinstellen und wieder hinlegen. Nur so konnten wir ihn bewegen.
Als der Baumstamm endlich an der Stelle unseres Hinterhofes lag, die ich für ihn vorgesehen hatte, unterhielt ich mich noch einige Zeit mit Oliver. Er war neugierig, was ich mit dem Baumstamm anstellen wollte: „Kunst?“, fragte er. „Nein, Bienen!“, antwortete ich. Es stellte sich heraus, dass auch er in vergangenen Tagen Bienen gehalten hatte. Oliver konnte sich nur schwer vorstellen, dass es möglich sein könnte, Bienen in einem Baumstamm zu halten. Auf jeden Fall müsse der Stamm unten offenbleiben, sonst würde er aufgrund des entstehenden Kondenswassers im Inneren schimmeln, ganz zu schweigen von der Behandlung gegen die Varroamilbe, die er berechtigterweise für unmöglich hielt. Oliver wünschte mir trotzdem viel Glück und Spaß mit dem Baumstamm und fuhr davon. Da lag er nun, der Baum für meine Klotzbeute. Da war allerdings noch ein kleines Problem zu klären: Was sagen unsere Garten-Mitbenutzer und mein Vermieter zu dem Baumstamm auf ihrem Hof und zu meiner Idee, in diesem Bienen wohnen zu lassen? Ich hätte sie gerne gefragt, bevor ich den Baumstamm auf den Hof legte. Aber während ich den großen Fang machte, waren sie im Urlaub und ich wollte das gute Stück schnellstmöglich in Sicherheit bringen, bevor das Holz einem Kaminbesitzer zum Opfer fiel. Somit hatte ich nun bereits Tatsachen geschaffen, zwar waren noch keine Bienen eingezogen, aber es lag immerhin schon einmal ein großer schwerer Baumstamm auf dem Hinterhof, den man nicht mal eben an die Seite schaffte und der den Eindruck vermittelte, dass ich es ernst meinte oder dass ich gar nicht erst vorgehabt hätte, unsere Nachbarn um ihr Einverständnis zu fragen. Das konnte sauer aufstoßen, und das wollte ich keinesfalls. Wenn, dann sollten dem „Projekt“ alle offen gegenüberstehen, sonst würde es am Ende nur Probleme geben.
Zum Glück waren alle einverstanden. Auch die an unseren Garten angrenzenden Nachbarn waren der Idee gegenüber aufgeschlossen und hatten erstaunlich wenig Bedenken oder Vorbehalte. Im Gegenteil, ich hatte eher den Eindruck, dass alle eine gewisse Neugierde ausstrahlten. Bienen sind prinzipiell ja äußerst friedfertige Tiere. Dennoch hat sich bei uns Menschen eine latente Angst vor ihnen entwickelt, was vermutlich auch daran liegt, dass sie häufig mit den ähnlich aussehenden Wespen verwechselt werden oder einfach, weil die meisten wissen, wie verdammt schmerzhaft es ist, wenn man von ihnen, barfuß über die Kleewiese laufend, gestochen wird. Deshalb war es mir wichtig, Ängste und Bedenken ernst zu nehmen. Denn oft geht es im Leben doch einfach nur darum, gehört zu werden. Ist dafür Raum, stellt sich eine gewisse Zufriedenheit ein. Mit meinem Bienen-Projekt hatte also niemand ein Problem. Das zeigte mir, dass es manchmal einfacher ist, etwas umzusetzen, als man vorher glaubt. Ideen scheitern ja oft bereits im Kopf, bevor man überhaupt einen Versuch unternommen hat, sie Realität werden zu lassen. Einfach nur deshalb, weil die Vorstellungskraft dafür fehlt, dass sie jemals Gestalt annehmen könnten. Vielleicht lag die gelassene Reaktion auf mein Projekt aber auch nur daran, dass ich sie im Juli fragte und den Einzug eines potenziellen Bienenschwarms erst für den Mai des darauffolgenden Jahres ankündigte. Für den Einzug eines Bienenschwarmes war es in diesem Jahr einfach schon zu spät. Schließlich mussten die Bienen es noch vor dem Ende des Sommers schaffen, ihre Waben zu bauen und mit Vorräten zu füllen, um den Winter überleben zu können.
Naturgemäß ist um den Monat Mai herum Schwarmzeit der Bienen. Es ist die Zeit, in der die Bienenvölker ihrem natürlichen Fortpflanzungstrieb folgen und ihre Völker teilen, um auszuschwärmen und sich als Volk zu vermehren. Das ist die ideale Zeit, um einen Bienenschwarm in eine Klotzbeute einziehen zu lassen, zumal für mich nur ein natürlicher Bienenschwarm für die Klotzbeute infrage kam. Es gibt zwar auch andere, „künstliche“ Methoden, um Bienenvölker zu vermehren. Doch nur ein „echter“ Schwarm erschien mir für die Klotzbeute als sinnvoll und auch für Bienenkisten werden echte Schwärme empfohlen.2 Das leuchtet ein, denn nur in einem Naturschwarm herrscht die richtige „Stimmung“ und es kann die Energie aufgebracht werden, die notwendig ist, um in einer Bienenbehausung wie der Klotzbeute ein neues Volk aufzubauen. Auf einen echten Bienenschwarm musste ich von nun an also noch knapp zehn Monate warten.
Die wahrscheinlich berühmteste
Milbe der Welt
Es war Juli und ich hatte nun diesen prachtvollen hohlen Baumstamm auf dem Hinterhof liegen. Und bis zur Schwarmzeit im nächsten Frühjahr blieb mir viel Zeit zum Grübeln. War es überhaupt möglich, dass ein Bienenvolk in einer