Der wilde Weg der Honigbienen. Christoph Nietfeld
eliminiert, die vielleicht das Zeug dazu gehabt hätten, mit der Milbe fertig zu werden. Denn auch wenn ein Volk im Frühjahr schwach ist, kann es sich wieder zu einer normalen Volksgröße entwickeln. Für mich war das aber unattraktiv, weil die Frühlingstracht bis dahin schon vorbei gewesen wäre. Wahrscheinlich sind den Bienen durch mein Vorgehen, welches sich wieder allein an dem Ziel der Honigernte orientierte, wertvolle Eigenschaften verloren gegangen.
Ich habe bei meinen Recherchen auch Berichte von frei lebenden Bienenvölkern gefunden, die in selbst bezogenen Hohlräumen auf sich allein gestellt leben. So zum Beispiel in dem Bienenbaum von Angenstein, von dem auch Martin Dettli berichtet. Demnach wohnt in diesem Baum seit zehn Jahren ein Bienenvolk. Dabei handelt es sich nicht durchgängig um ein und dasselbe Volk, aber immerhin wurde dreimal ein Winter von den Völkern überlebt und nachdem ein Volk gestorben war, zog im Frühling sofort ein neuer Schwarm ein.24 André Wermelinger berichtet ebenfalls von wild lebenden Bienenvölkern in der Schweiz, in Zürich, Winterthur und Dübendorf.25 Es gibt also Völker, die ohne fremde Hilfe auskommen. Zu dem Phänomen schrieb Dr. Werner Mühlen anlässlich eines Bienenvolkes, das angeblich seit fünf Jahren in einer Kirchenmauer lebte, Folgendes: „Wenn wir annehmen, dass ein einziges Volk so lange der Varroa trotzt, stellt sich die Frage, wie das geschehen kann. Vielleicht sind wir hier einem Phänomen auf die Spur gekommen, das uns zum Umdenken anregen sollte. Ist es wirklich das unausweichliche Schicksal eines Volkes, zugrunde zu gehen, wenn die Varroa eingedrungen ist? Geert Lijftogt, ein holländischer Imker der Stichting Fortmund Imkerij, versuchte, Bienenvölker ohne Varroabehandlung über Jahre zu führen – und es ist ihm gelungen. Lijftogt betreibt eine Schwarmimkerei und legt großen Wert darauf, dass die Bienenvölker in einer blütenreichen Umwelt leben, also immer ausreichend Nahrung finden. Hier liegt wohl der Schlüssel.“26 Demnach gibt es neben den Versuchen und einzelnen, wild lebenden Bienenvölkern sogar eine Imkerei, die ihre Bienen nicht gegen die Varroamilbe behandelt. Und das ist nicht die einzige.
Ein weiteres Beispiel ist die Berufsimkerei von Ed und Dee Lusby in den USA, im Bundesstaat Arizona. Die Bienenvölker überleben ohne eine Varroabehandlung.27 Dafür schaffen ihre Halter viele Voraussetzungen für ein wesensgemäßes Leben der Bienen, die uns in den weiteren Kapiteln noch des Öfteren begegnen werden. Damit fördern sie das hygienische Verhalten der Bienen, auch „VSH“ (Varroa Sensitive Hygiene) genannt, wodurch diese die Varroamilben und mit Milben befallene Brut selbst aus dem Bienenstock räumen.28 Es handelt sich dabei also um eine Art Hilfe zur Selbsthilfe. Ich habe nun auch schon mehrmals von einer Gruppe von Imkern aus Wales gehört und gelesen, die gemeinsam die Behandlung gegen die Varroamilbe eingestellt haben. Verblüffend ist, dass ihre Verluste im Vergleich zu Imkern, die ihre Bienen behandeln, nicht höher sind.29
Bei einem Vortrag in Düsseldorf im Juni 2017 berichtete Jacco van de Ree von seiner Imkerei auf der Holländischen Insel Texel. Er hat rund 70 Bienenvölker, die er ebenfalls nicht gegen die Varroamilbe behandelt. Jacco van de Ree berichtete über seinen rücksichtsvollen und wesensgemäßen Umgang mit den Bienen. Zum Beispiel entnimmt er ihnen im Durchschnitt „nur“ zehn Kilogramm Honig pro Jahr, sodass sie mit eigenem Honig überwintern können. Zudem vermehrt er seine Völker ebenfalls über Schwärme. Eine Besonderheit ist sicherlich, dass es auf der Insel Texel nur die sogenannte Dunkle Biene gibt, der in Bezug auf den Umgang mit der Varroamilbe scheinbar besondere Fähigkeiten nachgesagt werden. Aber wenn es so einfach wäre, hätten sicherlich schon alle Imker die Dunkle Biene. Es gehört also mehr dazu.
Als ein wichtiger Baustein im größeren Kontext einer ganzheitlichen Sicht auf die Bienengesundheit ist anscheinend auch der Schwarm zu sehen. Thomas D. Seeley stellte bei seinen Untersuchungen fest, dass sich nach dem Schwärmen die Anzahl der Milben im Muttervolk deutlich reduziert. Ein Grund dafür sei, dass mit dem Schwarm rund 60 Prozent der Bienen den Stock verlassen und damit die auf ihnen sitzenden Varroamilben. Aber auch der Schwarm reduziert seinen Varroabefall deutlich. Seeley nimmt an, dass sich die wärmesensiblen Varroamilben während der Aufwärmphase im Bienenstock unmittelbar vor dem Schwärmen, bei der sich die Bienen auf 35 Grad Celsius aufwärmen, von den Bienen fallen lassen. Zudem weist er darauf hin, dass nach dem Schwärmen im Muttervolk eine Brutpause eintritt, weil die junge Königin eine gewisse Zeit braucht, bis sie ihren Hochzeitsflug absolviert hat und mit der Eiablage beginnt. Somit gibt es eine Zeit lang keine verdeckelte Brut, in der sich die Varroamilbe vermehren kann.30 Die Brutunterbrechung ist offensichtlich, aber die Aufwärmphase unmittelbar vor dem Schwärmen vollzieht sich im Verborgenen. Das war mir neu und erinnerte mich ein wenig an Fieber bei uns Menschen.
Johannes Wirz schreibt zum Schwarm: „Schwärmen ist ein Akt der Gesundung“, und verweist auf Untersuchungen, die belegen, dass durch den Schwarmakt die Belastung mit der Varroamilbe vermindert wird und sogar bakterielle Erkrankungen des Volks nachweislich reduziert werden.31 Das klingt für mich nachvollziehbar. Somit ist der Schwarm nicht nur eine Form der Vermehrung, sondern auch ein effektiver Mechanismus der Bienen, um sich vor Krankheiten zu schützen. Spätestens jetzt drängt sich die Frage auf, warum der Imker die Bienen nicht einfach schwärmen lässt, wenn es so gesund für sie ist. Darauf gehe ich später noch genauer ein.
Während ich mich mit der Varroamilbe beschäftigte, wurde ich auf die Wiederentdeckung eines Nützlings der Bienen aufmerksam: des Bücherskorpions. Dieser lebte ursprünglich mit den Bienen zusammen in einer symbiotischen Beziehung und ernährte sich von unterschiedlichen Milben und anderen Tieren, die im und um das Bienenvolk leben. Versuche von Torben Schiffer haben gezeigt, dass die Bücherskorpione, zumindest unter Versuchsbedingungen, auch Varroamilben fressen.32 Dabei gibt es nur ein Problem: Wenn ein Bienenvolk zum Beispiel mit Ameisensäure behandelt wird, werden auch die Bücherskorpione getötet und vielleicht auch noch andere Begleiter der Biene, die regulierend auf Bienenschädlinge wirken. Durch die Ameisensäurebehandlung wird somit das gesamte Mikro-Ökosystem gestört, in das die Biene eingebettet ist. Viele der Wechselwirkungen zwischen den Kleinstlebewesen um die Bienen sind heute wahrscheinlich noch nicht einmal bekannt. Von uns selbst kennen wir einen ähnlichen Effekt, wobei übertriebene Sauberkeit Allergien begünstigen soll.
In „Four Simple Steps to Healthier Bees“ beschreibt Michael Bush bereits bekannte Wechselwirkungen zwischen dem Mikro-Ökosystem im Bienenstock und dem Bienenvolk. Dieses Umfeld trägt demnach maßgeblich zur Gesunderhaltung der Bienen bei. Er fordert deshalb, diese wertvolle Symbiose zu schützen, und warnt davor, sie zum Beispiel mit Stoffen wie Ameisensäure zu schädigen.33 Das schließt meiner Meinung nach auch eine Zurückhaltung bei der Reinigung der Bienenstöcke ein. Denn die kleinen Begleiter der Bienen brauchen Nahrung und die finden sie wahrscheinlich im „Gemüll“, also alledem, was bei den Bienen herunterfällt und für gewöhnlich unten in der Bienenbehausung zu finden ist. Wenn man an eine Baumhöhle denkt, in der die Bienen früher einmal lebten, ist es offensichtlich, dass dort niemand den Höhlenboden gereinigt hat.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen wilden, Varroaresistenten Völkern und bewirtschafteten Bienenvölkern ist sicherlich auch die räumliche Distanz zueinander. Nach Untersuchungen von Thomas D. Seeley hat die Nähe der Völker zueinander unmittelbare Auswirkungen auf die Milbenentwicklung. Demnach landen bei dicht nebeneinander aufgestellten Bienenvölkern, wie es in der Imkerei üblich ist, nach jedem Flug zwanzig Prozent der Sammlerinnen im falschen Bienenstock. Da eine Sammlerin mehrmals am Tag unterwegs ist, sitzen am Abend mehr als achtzig Prozent der Bienen im falschen Bienenstock. Ein entsprechender Versuch mit unmittelbar nebeneinander aufgestellten und im Vergleich dazu mit Abstand aufgestellten Bienenvölkern hatte gezeigt, dass die dicht aufgestellten Völker ohne Behandlung gegen die Varroamilbe starben und die mit Abstand aufgestellte Gruppe mit Varroapopulationen unter der kritischen Grenze überlebte.30 Der Abstand zwischen den Völkern der mit Abstand zueinander aufgestellten Gruppe betrug 21 Meter bis 75 Meter.34 Der Effekt des Verfluges war mir bekannt, denn wenn ich mehrere Bienenvölker in eine Reihe stellte, entwickelten sich die äußeren zu den größten Völkern – auch wenn dies nicht nur für den Verflug der Bienen, sondern auch dafür sprechen könnte, dass Bienen die äußeren Beuten in einer Reihe bevorzugen. Aber dass es so viele Bienen sind, die tagtäglich in den falschen Bienenstock fliegen, hatte mich überrascht. Natürlich findet auf diese Weise eine Übertragung der Milbe in andere Völker statt.
Je