Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha
Zuerst das Kind,
Das in der Wärtrin Armen greint und sprudelt;
Der weinerliche Bube, der mit Bündel
Und glattem Morgenantlitz wie die Schnecke
Ungern zur Schule kriecht; dann der Verliebte,
Der wie ein Ofen seufzt mit Jammerlied
Auf seiner Liebsten Braun; dann der Soldat,
Voll toller Flüch und wie ein Pardel bärtig,
Auf Ehre eifersüchtig, schnell zu Händeln,
Bis in die Mündung der Kanone suchend
Die Seifenblase Ruhm. Und dann der Richter
Im runden Bauche, mit Kapaun gestopft,
Mit strengem Blick und regelrechtem Bart,
Voll weiser Sprüch und Allerweltssentenzen
Spielt seine Rolle so. Das sechste Alter
Macht den besockten, hagern Pantalon,
Brill auf der Nase, Beutel an der Seite;
Die jugendliche Hose, wohl geschont,
’ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden;
Die tiefe Männerstimme, umgewandelt
Zum kindischen Diskante, pfeift und quäkt
In seinem Ton. Der letzte Akt, mit dem
Die seltsam wechselnde Geschichte schließt,
ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen,
Ohn Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.2
Auch in Shakespeares Drama klingt bei Lord Jacques’ Rede eine Stufung des Lebensablaufes an. Dass er nur von sieben Akten spricht, ist dabei nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Der Bogen vielmehr ist es, der sich vom greinenden Kind zum quäkenden Kinde spannt, so wie es auch in den Treppenbildern der folgenden Jahrhunderte von Malern und Bildschnitzern immer wieder, angepasst an die jeweilige Epoche, dargestellt wurde.
Das Stufenalter im 19. Jahrhundert
Das Stufenalter des Menschen im 19. Jahrhundert beginnt natürlich auch mit der Geburt. Ein Säugling in seiner Wiege wächst zum Kind heran. Aus ihm entwickelt sich der Jüngling und wird zum Mann. Im Laufe der tätigen Jahre erreicht er den höchsten Treppenabsatz, das körperliche und geistige Wachstum kommt auf diesem Hochplateau von zehn Jahren Dauer zum Stillstand. Jetzt beginnt der Abstieg des Alterns mit nachlassender Vitalität und ab dem sechzigsten Lebensjahr schaut Gevatter Tod über die Schulter. Mit siebzig ist der Mann ein Greis, seine Haare werden weiß. Der Neunzigjährige wird zum Gespött der Kinder und mit Hilfe der Gnade Gottes erlebt der Uralte seinen hundertsten Geburtstag. Liegt zu Beginn des Lebens ein abhängiges, pflegebedürftiges Kind in einer hölzernen Wiege, wartet am Ende auf den wieder abhängigen, pflegebedürftigen Alten der hölzerne Sarg. Der Todesengel mit Stundenglas und Sense wacht über diesen ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens auch in dieser Darstellung.
Dass – wie im Treppenbild – ein hohes Sterbealter von 100 Jahren erreicht wurde, war sicher im Einzelfall möglich, aber doch eher für die meisten Menschen der damaligen Zeit unwahrscheinlich. Alle Informationen deuten darauf hin, dass die reale und durchschnittliche Lebenszeit wesentlich geringer war als heute. Um die Zeit der Entstehung der Lebenstreppe von Jörg Breu dürfte sie bei etwa 35 Lebensjahren gelegen haben. Natürlich wurde dies auch durch eine sehr hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit wesentlich beeinflusst. Bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb die Lebenserwartung niedrig. Ein Alter von 30 Jahren durchschnittlicher Lebensdauer erreichten noch im 18. Jahrhundert nur rund 30 bis 40% der Menschen.4
Gründe für diese niedrige Lebenserwartung neben der erwähnten hohen Kindersterblichkeit gab es genug: Seuchen, Epidemien, Infektionen, schlechte Hygiene, mangelhafte ärztliche Versorgung, widrige Lebensumstände, Missernten, Armut, Hunger, Unglücksfälle, Verletzungen, Verbrechen, Todesstrafe, Kriege …
Im 20. Jahrhundert haben die wirtschaftliche Entwicklung, der medizinische Fortschritt, die Verbesserung der hygienischen Bedingungen, ausreichende und gesündere Ernährung, sportliche Betätigung und gesundheitliche Vorsorgemaßnahmen in den europäischen Industrienationen die Lebenserwartung beträchtlich erhöht. Verbunden damit ging eine Steigerung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit einher, die sich in Richtung auf ein höheres Alter erweiterte.
Seit der Einführung der deutschen Versicherung für Angestellte im Jahr 1913 gehörte der Mensch, der das 65. Lebensjahr überschritten hatte, „zum alten Eisen“, ungeachtet der wachsenden Lebenserwartung. Auch heute gilt diese rechtliche Grenze noch immer. Kinder, die im Jahre 1910 auf die Welt kamen, wurden im Durchschnitt etwa 47 bzw. 51 Jahre alt, hatten also schlechte Karten, das Rentenalter überhaupt zu erreichen. Seit dieser Zeit hat sich die Situation gravierend verändert; die Menschen in Deutschland werden heute im Durchschnitt etwa 80 Jahre alt.
Joachim Gauck, der Präsident der Bundesrepublik Deutschland, erklärte in seiner Rede zum Thema „Die neue Kunst des Alterns“ am 31. März 2015:
Die Lebenstreppe früherer Jahrhunderte bildet die Realität also längst nicht mehr ab. Aber die neue Wirklichkeit ist in unserer Vorstellungswelt und teilweise auch in unserem gesetzlichen Regelwerk noch nicht richtig angekommen. Tatsache ist: Für die meisten von uns geht es ab fünfzig nicht unaufhaltsam abwärts. Es folgt eher ein Hochplateau, eine früher sehr seltene Lebensphase in guter körperlicher und mentaler Verfassung, die persönliches Fortkommen und Neuorientierung ermöglicht. Die Wissenschaft sagt uns: Als Individuen haben wir die Möglichkeit, diese Hochplateau-Zeit auszudehnen.
Und Joachim Gauck fährt fort:
Was ist also zu tun? Die erste Konsequenz muss heißen: Beim demographischen Wandel geht es nicht allein um die gewonnenen Jahre und die Belange älterer Menschen. Altern beginnt bei der Geburt. Wir müssen das verlängerte Leben insgesamt in den Blick nehmen. Und wir müssen die Lebenszeit neu strukturieren. Wir brauchen neue Muster für lange Lebensläufe, neue Verflechtungen von Lernen, Arbeit und Privatem.
Gedanken eines Betroffenen
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum“, raunt mir beim Lesen dieser Rede des Bundespräsidenten Goethes Mephistopheles ins Ohr und er flüstert: „Was machst du denn mit deinem Mehr an Zeit, wenn deine Freunde alle gehen und du einsam bist und frierst?“
Woher kennt denn Faustens dienstbarer Geist dieses Abschiedslied, das mich immer wieder ein wenig traurig stimmt, wenn ich es höre?
Erich Kästner beschreibt diese Einsamkeit:
Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine –
Und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.
Ja, ja, ich weiß, die Einschläge kommen näher. So höre ich manchmal meine Altersgenossen witzeln, wenn wieder ein Jahr dahingegangen ist und die weniger werdenden Gratulanten nur noch, vor allem aber, Gesundheit wünschen, mit dem ernst gemeinten Hinweis, dass dies in meinem Alter auf jeden Fall das Wichtigste sei, ein bisschen Glück könnte natürlich auch nicht schaden. Danke, antworte ich dann und erwidere: „Merk dir eines, mein lieber Freund, alt werden ist gar nicht so schlimm, alle nehmen daran teil, auch du.“
Apropos