Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff

Der Seele tiefer Grund - Beate Berghoff


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Reitunfall gestorben, als Heinrich 9 Jahre alt gewesen war. Cateline war nach dem Tod ihrer Mutter in ein Kloster zur Erziehung gegeben worden und war mittlerweile mit einem Großcousin in Frankreich verheiratet. Heinrich hatte sie schon lange nicht mehr gesehen und beschloss, sie im Sommer zu besuchen. Er hatte ja sonst nichts zu tun. Heinrich war 26 Jahre alt und seit sechs Jahren ein Ritter. Er hatte an kleineren Kriegen und Nachbarschaftsfehden teilgenommen und sich in der Zeit dazwischen auf Turnieren bewiesen. Vor zwei Jahren war – leider – sein Vater gestorben und er hatte zurück nach Rabenegg kommen müssen, um dort den Gutsherrn zu spielen.

      Heinrich dachte nach. Er war ein miserabler Gutsherr. Die Landwirtschaft interessierte ihn einfach nicht. Das Beste am Gut war, dass es ihm Geld für seinen Lebenswandel einbrachte. Er war viel unterwegs, irgendwo war immer eine Hochzeit, ein Pferdemarkt, eine Jagdgesellschaft. Er lud auch gerne Leute zu sich ein und veranstaltete Feste und Jagden, sehr zum Missfallen seines Verwalters.

      Der Verwalter, Ulrich, war ein alter Geizkragen. Ständig rechnete er Heinrich vor, was das alles kostete und mahnte ihn zur Sparsamkeit. Heinrich hätte diese alte Spaßbremse gerne vor die Tür gesetzt, aber er hatte keine Ahnung, wie so ein Gut mit Landwirtschaft und all den abgabepflichtigen Dörfern und Weilern funktionierte, und ohne Ulrich wäre er verloren gewesen. Ulrich war ein alter Freund seines Vaters gewesen, sie hatten zusammen im Krieg gekämpft, und als Ulrich nach einem Kampf als Krüppel mit einem lahmen Bein und einer fehlenden linken Hand zurück blieb, war es für Heinrichs Vater selbstverständlich gewesen, Ulrich das Amt des Verwalters anzutragen. Er füllte dieses Amt gut aus, und so ertrug Heinrich den alten Mann und hoffte, dass er noch lange leben und ihm die ganze Verantwortung abnehmen würde.

      Heinrich ging zurück in seinen kleinen Rittersaal. Er hatte auch noch eine große Halle, aber dort aßen die Dienstboten. Er war dort nur, wenn es unvermeidlich war, mit dem Gesinde zu essen, wie an hohen Feiertagen. Wenn Heinrich viele Gäste hatten, dann aß das Gesinde anderswo, Heinrich wusste auch nicht, wo genau. Wenn Heinrich viele Gäste hatte, dann bewirtete er sie in seiner großen Halle. Aber jetzt war Winter, und es waren nur seine drei besten Freunde da und der kleine, gemütliche Rittersaal reichte allemal. Er sah die schnarchenden Männer an. Sie hatten noch die Reste vom Festmahl gestern am Gewand und teilweise im Gesicht kleben, genauso wie die Reste vom Wein und vom Bier. Sie würden heute vermutlich ein heißes Bad in Heinrichs großem Badezuber nehmen, das hatten sie dringend nötig. Heinrich liebte heiße Bäder, sie erfrischten ungemein.

      Die Männer schliefen tief, und es würde noch eine Weile dauern, bis sie endlich wach und einigermaßen ansprechbar sein würden.

      Heinrich spürte eine tiefe Unruhe in sich. Die letzten Tage hatte er nur mit seinen Freunden gesoffen und viel zu viel gegessen. Sein Magen rumorte, sein Rücken tat weh, und sein Kopf drohte ihm abzufallen vor Schmerzen. Er musste an die frische Luft und sich bewegen. Heinrich beschloss, dass er ausreiten würde. Er wusch sich oberflächlich mit kaltem Wasser, was ungemein guttat. Dann ging er in die Küche und holte sich heiße Gemüsebrühe, die er durstig trank. So fühlte er sich schon besser. Richtig essen wollte und konnte er nicht, also nahm er sich einen Kanten trockenes Brot und begann, darauf herum zu kauen. Dann ging er wieder und bemerkte gar nicht, wie die Mägde erleichtert aufatmeten, als er verschwand.

      Er ging in seine Kammer und zog sich für den Ausritt warm an, schließlich war es kalt draußen. Dann ging er in den Stall. Es waren nur wenige Leute da, drei Knechte dösten im Stroh. Wo waren die Leute alle? Ach ja, heute war ja Sonntag, und die Leute mussten außer der Stallarbeit nichts tun. Es war Sonntag, Heinrich und seine Freunde hatten also die Messe verpasst, aber der Pfaffe, Bruder Alban, hielt am Abend meistens nochmal eine Messe ab, weil sich Heinrich und seine Gäste selten pünktlich aus dem Bett quälen konnten. Als die Knechte ihn sahen, sprangen sie auf, rissen ihre Mützen herunter und verbeugten sich. Dann schauten sie stumm auf den Boden.

      Heinrich gab den Befehl, sein Pferd zu satteln, und einer der Knechte tat es sofort. Er sattelte Juno. Heinrich hatte noch zwei Reitpferde, Alba und Diana, aber mit Juno ritt er am liebsten aus. Leider zu selten. Heinrich überlegte, wann er das letzte Mal reiten gewesen war. Ob wohl jemand seine Pferde bewegte, wenn er es nicht tat? Er stellte fest, dass er keine Ahnung hatte, was in seinem Gut eigentlich den ganzen Tag passierte. Aber es war ja auch egal, er hatte Leute dafür.

      Der Knecht war fertig und verschränkte die Hände, damit Heinrich aufsteigen konnte, was er auch tat. Ausreiten war eine gute Idee, das würde seinen schmerzenden Kopf freiblasen. Er ritt hinaus in den Hof, wo Ulrich ihm über den Weg lief. Er zog die Augenbrauen hoch und fragte: „Wollt Ihr allein ausreiten? Es wird schneien, nehmt doch einen von Euren Freunden oder einen Reitknecht mit.“

      Heinrich war genervt, wie immer, wenn der Verwalter ihn so schulmeisterlich behandelte. Von oben herunter meinte er: „Ich war schon mal ausreiten, Ulrich, ich weiß wie das geht. Aber trotzdem vielen Dank“.

      Dann ritt er los, durchs Tor hinaus Richtung Wald.

      Es war wunderschön. Eigentlich liebte Heinrich die Stille, aber in den letzten Tagen hatte er keine Minute Ruhe gehabt. Da er die meistes Zeit betrunken gewesen war, hatte er es gar nicht so bemerkt, aber jetzt, wo er in der Stille war, merkte er, wie sehr er sie vermisst hatte.

      Heinrich fühlte, wie sein Herz aufging, als er durch den verschneiten Wald ritt, erst im Schritt und dann im Trab. Galoppieren traute er sich noch nicht, weil er unter dem Neuschnee eine Eisschicht vermutete und er nicht wollte, dass Juno ausrutschte. Er ritt in Stille, bis er merkte, wie er zur Ruhe kam. Das sollte er öfter tun, und Heinrich nahm sich vor, nicht mehr ganz so viel zu trinken und lieber jeden Tag auszureiten. Er musste zwar nicht mehr auf Turnieren kämpfen, aber er wollte nicht so fett und unbeweglich enden wie sein Vater. Außerdem waren seine Freunde Albrecht, Leonhard und Gottfried immer noch Turnierkämpfer, und denen würde es sicher guttun, wenn sie auch im Winter Bewegung bekamen.

      Heinrich ritt einen großen Bogen. Er würde nicht im Wald zurückreiten, sondern am Bach entlang, der bis zu seinem Gut führte.

      Heinrich hatte keine große Burg wie Grafen oder Herzöge. Eigentlich war es ursprünglich nur ein Wohnhaus auf einem Hügel mit Stallungen und einer Mauer drumherum gewesen. Das Wohnhaus war vergrößert worden, die Ställe auch, es waren noch zwei Türme zur Beobachtung des Umlandes und der Aufbewahrung des Getreides gebaut worden. Sein Vater hatte Pferde gezüchtet und beritten, also gab es neben den Ställen für Kühe, Schweine, Schafe, Hühner und Gänse auch zwei große Pferdeställe, von denen einer halbverfallen war, und Koppeln und Reitplätze. An Pferden gab es nur noch eine Handvoll Reitpferde und ein paar kräftige Arbeits- und Zugpferde.

      Um das Gut herum prangte mittlerweile eine mächtige Mauer mit Türmchen und Schießscharten für Pfeile. Heinrichs Vater hatte sich in seinen letzten Lebensjahren in den Wahn hineingesteigert, dass ihn jemand angreifen wollte, und er hatte viel Geld in den Ausbau der Mauer und der Wehrtürme gelegt und dafür auch seine besten Zuchtpferde verkauft.

      Schade drum, fand Heinrich. Pferde züchten und bereiten war das Einzige gewesen, was ihm Zuhause Freude gemacht hatte. Aber die Pferde waren fort, und Heinrich hatte noch nie ernsthaft drüber nachgedacht, neu mit dem Pferdebetrieb zu beginnen. Dafür liebte er sein faules und ungebundenes Leben viel zu sehr. Er bezeichnete also sein Zuhause als Rittergut, obwohl die überdimensionierte Mauer eher zu einer Burg gepasst hätte.

      Heinrich kam zum Wäldchen mit den uralten Bäumen, aber dort kam er nicht durch. Vor ein paar Tagen hatte es einen Schneesturm gegeben, und es lagen Äste auf dem Weg. Einige der alten Bäume waren sogar umgefallen und machten ein Durchkommen unmöglich. Er ritt einen kleinen Umweg und kam direkt hinter dem Wäldchen zum Bachlauf. Es lag eine leichte Eisdecke darauf, die vermutlich noch nicht halten würde. Heinrich blieb am Bachufer stehen und staunte, wie wunderschön es hier war. Er musste einfach öfter herkommen.

      Plötzlich schoss ein aufgescheuchter Hase über die Schneedecke und an ihnen vorbei. Juno, der darauf nicht vorbereitet gewesen war, erschrak und machte einen Satz zur Seite. Er rutschte aus, fiel hin und schlidderte zusammen mit Heinrich auf den Abhang und den Bach darunter zu. Bis Heinrich verstand, was gerade passierte, fühlte er entsetzliche Kälte um seinen Körper herum. Er war ins Eis eingebrochen.

      Juno ruderte hektisch herum und


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