Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
wieder, wie früh am Morgen die Dienstboten aufstanden. Was ihm als unmenschlich früh erschien, war normaler Arbeitsbeginn für die Leute hier. Und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass Veit schon etliche Stunden Stallarbeit und sonstige Arbeit hinter sich hatte, wenn Heinrich normalerweise nach dem Gespräch mit dem Verwalter zum Tagwerk erschien. Darüber hatte er früher nie nachgedacht, und jetzt erschien es ihm als erstaunlich.
Er beschloss, öfter ein Fest für seine Dienstboten zu geben, vielleicht regelmäßig alle paar Wochen Samstagabend, einfach nur, um ihre Arbeit zu würdigen. Sie würden ein Schwein schlachten und grillen, frisches Brot essen, lachen, und einfach nur zufrieden sein. Seine Leute waren ihm nicht mehr egal. Es waren nicht mehr nur Nutztiere, die sprechen konnten. Es waren die Leute, die sein Gut am Laufen hielten, und Heinrich war dankbar.
Er veränderte sich. Durch seine eigene Arbeit lernte er, die Arbeit der Anderen zu schätzen. Er merkte, wie er besonnener und durchdachter mit den Leuten umging, und die grausamen Körperstrafen am Gut sanken drastisch. Er sah ja jetzt selbst, wie hirnrissig dumm es war, jemanden übertrieben zu prügeln oder hungern zu lassen, oder gar eine Hand abzuschlagen. Die Arbeitskräfte wurden gebraucht, und solche Strafen führten dazu, dass Leute ausfielen. Außerdem war ihm jetzt klar, wieviel die Leute eigentlich leisteten, und er bekam nicht gleich bei jeder Kleinigkeit einen Wutausbruch. Er sorgte dafür, dass die Leute mehr und auch besseres Essen bekamen und dass Sonntage und Feiertage bis auf die notwendigen Arbeiten wirklich frei waren. Alles schien irgendwie entspannter zu laufen, und Heinrich war froh drüber. Vom Leid und Elend, den stummen Anklagen der Vergangenheit, die das Gut noch im letzten Jahr überschattet hatten, war immer weniger zu spüren.
Die Leute jubelten ihm immer noch nicht zu, und ließen ihn auch nicht hochleben, aber er war sich jetzt zumindest sicher, dass sie nicht mehr hinter seinem Rücken über ihn lachten oder ihn verachteten. Seine Arbeit erfüllte ihn mit Stolz, und er bemerkte die Anerkennung, die seine Leute ihm entgegenbrachten. Keine Liebe, aber doch Anerkennung und Achtung.
Heinrich bemerkte immer öfter, dass er glücklich war. Es war ein einfaches, erfülltes Glück, ganz ohne große Feste und Alkohol und Völlerei. Er war von früh bis spät beschäftigt und schätzte mittlerweile Aufrichtigkeit und Fleiß mehr als die Schmeicheleien seiner alten Freunde. Heinrich vermisste seine Freunde von früher fast gar nicht mehr, manchmal schüttelte er über sich selbst den Kopf, was er an denen überhaupt gefunden hatte. Keiner von ihnen hatte sich bis jetzt wieder blicken lassen. Ab und zu erhielt er über Boten Briefe von alten Freunden, Bekannten, Verwandten und Weggefährten. Hauptsächlich standen darin Ausflüchte, warum die Leute nicht zu Besuch kommen konnten, ab und zu kam eine Einladung, oder es bettelte ihn jemand um Geld an. Früher hatte Heinrich mit seinem Geld um sich geworfen, und seine „Freunde“ hatten ihn geliebt. Jetzt gab er fast nichts mehr, und die Freunde blieben weg.
Ob Veit wohl auch weggehen würde, wenn er ihm die Freiheit gab? Das war eine Frage, die Heinrich umtrieb. So gerne hätte er seinem Freund die Freiheit geschenkt, aber er brauchte ihn doch so dringend hier auf dem Gut. Ohne Veit wäre er verloren. Martin war frei und er war geblieben, trotz allem, was passiert war. Martin war zufrieden und erfüllt mit dem, was er jetzt tun durfte. Er war glücklich damit, Lesen, Schreiben und auch Latein zu lernen und die Aufgaben des Verwalters zu übernehmen. Die Abende, an denen gesungen wurde, liebte er ganz offensichtlich und hatte begonnen, den Frieden und die Freiheit seines neuen Lebens zu genießen. In der geräumigen und lichtvollen Kammer, die Heinrich ihm gegeben hatte, konnte Martin lesen, studieren, singen, Harfe spielen und malen. All das, was Martin liebte. Alban hatte ihm die Buchmalerei gezeigt, und Martin war begeistert. Und natürlich erfuhr er jetzt Freundschaft und fast so etwas wie Bruderliebe. Woanders würde er das wahrscheinlich nicht bekommen. Außerdem waren die Stellen als Verwalter nicht sehr zahlreich. Martin würde bleiben und eine zuverlässige, absolut loyale Stütze des Gutes sein, da war sich Heinrich mittlerweile recht sicher. Bei Veit war das etwas anderes. Jemand, der so gut reiten konnte und so viel von Pferden verstand, war überall willkommen. Heinrich wollte, nicht, dass Veit ging. Er würde ihm die Freiheit geben, irgendwann. Aber nicht jetzt.
Oft beobachtete Heinrich Veit heimlich bei der Arbeit. Er schien sich ganz gut abgefunden zu haben mit dem Leben, das er jetzt führte. Offensichtlich fühlte er sich bei der neuen Arbeit mit Heinrich auch ganz wohl, und das dämpfte das schlechte Gewissen, dass Heinrich immer dann hatte, wenn er an die Freiheit für Veit dachte.
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