Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
Er hatte wirklich Hunger, und mit Hunger schmeckte auch das einfachste Essen unglaublich gut.
Während er dasaß und zufrieden sein einfaches Mahl verzehrte, klopfte es wieder. Heinrich seufzte und bat den Besucher laut herein. Es war Veit. Heinrich hörte zu essen auf und starrte ihn an. Veit starrte auch, aber auf seine Fußspitzen. Er war sichtlich nervös, und Heinrich fragte sich, was er zu so später Stunde noch bei ihm wollte.
Einige Zeit sagten beide nichts, und schließlich fasste Heinrich sich ein Herz. „Was willst Du?“ fragte er so höflich, wie er es trotz der Störung beim Essen noch hinbekam.
Veit blickte auf. Er war blass. Ganz offensichtlich suchte er nach Worten, und holte schließlich tief Luft. „Ich denke, Ihr wünscht wahrscheinlich eine Gegenleistung, wegen der Fußketten“. Heinrich starrte ihn verblüfft an. Eine Gegenleistung? Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Er fragte „Wie kommst Du darauf?“. Veit zögerte. Dann sagte er sehr leise:
„Alles hat seinen Preis“.
Heinrich graute bei diesen Worten, er musste an das denken, was der Verwalter ihm über seinen Onkel und seinen Vater erzählt hatte. Er seufzte; es war kein gutes Gefühl. Wenn Veit doch einfach nur verschwinden würde! Heinrich wünschte sich so sehr, seine Ruhe zu haben, und nicht mehr nachdenken zu müssen. Er würde Veit wegschicken, aber erst, nachdem er ihm die Angst genommen hatte.
Also sah er Veit fest an und meinte „Nein, ich erwarte keine Gegenleistung. Nimm es einfach als Geschenk von mir“. Veit blickte ihn skeptisch an, ganz offensichtlich glaubte er nicht, was er da hörte. „Ihr wollt ganz sicher nichts von mir?“ fragte er, und sein Gesicht spiegelte so viel Grauen und Entsetzen wider, dass es Heinrich langsam dämmerte, warum Veit zu ihm gekommen war. Diese Erkenntnis sorgte dafür, dass ihm übel wurde und ihm die Luft wegblieb, und er sagte nichts. Heinrich stütze die Arme auf den Tisch und legte sein Gesicht in seine Hände. Er rieb sich die Augen und versuchte, tief zu atmen. Als er wieder aufblickte, stand Veit immer noch da, sein Gesicht jetzt völlig leer.
Da plötzlich hatte Heinrich eine Idee. Vielleicht würde es helfen, freundlich zu sein und Veit zum Essen einzuladen. „Komm her“ forderte Heinrich ihn übertrieben freundlich auf, und Veit kam näher und sank vor Heinrichs Sessel auf die Knie. Er wartete. Heinrich wusste nicht recht, worauf, und was er jetzt tun sollte. Plötzlich fragte Veit tonlos, wie aus einer anderen Welt: „Wie wollt Ihr mich?“
Es dauerte einige Augenblicke, bis Heinrich verstand. Er zuckte weg und sprang auf. „Nein!“
Er brachte einige Meter zwischen sich und Veit. „Nein! Veit! Ich….ich will Dich nicht, nicht so. Bitte steh auf!“
Der letzte Satz klang so flehentlich, dass Veit tatsächlich aufstand. Er war verwirrt. Was wollte der Herr Heinrich dann? Heinrich kam langsam wieder näher und blieb aber in deutlichem Abstand zu Veit stehen. „Ich will wirklich keine Gegenleistung, versteh das doch. Wenn Du magst, dann bete für mich. Und vorhin habe ich mir beim Ausreiten gedacht, wir könnten wieder Pferde zureiten. Wenn Du magst, dann mach mit.“
Das war es also. Pferde zureiten. Veit sog einen großen Schwall Luft ein und ließ die Luft langsam wieder nach draußen. Ihm war klar gewesen, dass es eine Gegenleistung geben musste. Pferde zureiten! Das war eine Gegenleistung, die er gerne geben würde. Er entspannte sich etwas.
Heinrich setzte sich wieder. Er hoffte, dass nun alles klar war und war ziemlich fassungslos, als Veit sich wieder hinkniete. Diesmal nahm Veit den Saum von Heinrichs Gewand und küsste ihn. Leise, aber deutlich sprach er „Ich danke Euch“. Es folgte ein Geräusch, das einem Schluchzen ähnelte. Und dann nochmal „Danke.“ Jetzt drückte Veit Heinrichs Gewandsaum an seine Stirn und meinte noch; „Gott segne Euch“.
Heinrich saß staunend da. Er hatte gedacht, die Leute würden ihn irgendwann lieben und ihm zujubeln und ihn hochleben lassen. Doch dieser stille Dank so ganz ohne Jubel berührte ihn noch viel mehr, er war so ehrlich. „Gott segne Euch“. Heinrich wusste nicht mehr, wann jemand das letzte Mal aufrichtig Gottes Segen für ihn erbeten hatte.
Veit kniete immer noch still da. Heinrich räusperte sich und fragte „Magst Du mit mir essen? Ich habe mehr, als ich schaffen kann“. Langsam hob sein Knecht den Kopf. Er vermied es, dem Herrn Heinrich direkt in die Augen zu schauen, dass durfte man ja nicht. Er blickte irgendwo in Richtung Kinn und meinte „Vielleicht solltet ihr besser mit dem Verwalter essen, der ist bessere Gesellschaft als ich.“ Heinrich hörte Wehmut aus Veits Worten, deswegen schluckte er die aufkommende Ungeduld über die Zurückweisung hinunter.
„Nein, das passt schon. Setz Dich!“ Veit tat wie ihm geheißen, aber wohl war ihm nicht dabei. Am liebsten wäre er wieder gegangen, aber das ging nicht ohne Erlaubnis dieses verhassten Mannes da vor ihm. Obwohl… Veit spürte nach.
Irgendwie war sein Hass gerade nicht da, die Dankbarkeit überwog. Bitter dachte er daran, was aus ihm geworden war, für was er jetzt schon Dankbarkeit fühlte. Sein Mut, sein Kampfgeist, sein unbeugsames Wesen, das waren alles Schatten, Erinnerungen an ein Leben, das so lange her war. Ein Leben, an das zu denken er sich normalerweise verbot, um den Schmerz in der Seele nicht zu spüren. Aber Heinrich wollte mit ihm Pferde zureiten. Ob er was wohl wirklich so meinte? Etwas Altbekanntes, lange Totgeglaubtes, erwachte in ihm: Neugier.
Veit sah Heinrich dabei zu, wie er versuchte, die Schalen und Schüsseln so zu verteilen, dass jeder einen eigenen Teller und eine eigene Schüssel hatte. Heinrich legte Butterbrote mit Schnittlauch und Brote mit Pflaumenmus auf die Schale, die Veits Teller sein würde. Dann füllte er etwas ungeschickt Gerstensuppe in einen großen Becher, der Veit als Schüssel dienen sollte. Für die Süßspeise war kein Teller mehr da, also sah Heinrich sich um. Vom Vortag stand noch ein leerer Weinbecher herum, in den löffelte er jetzt die Hälfte des Honigquarks.
Veit saß da und konnte es nicht glauben. Er schüttelte den Kopf, und kniff sich, um zu sehen, ob das hier wirklich real war. Aber kein Zweifel: er erlebte das gerade tatsächlich.
Heinrich schob das Essen zu Veit hin und grinste kurz. Veit fand, dass er aussah wie der kleine Junge, dem er vor langer Zeit das Reiten beigebracht hatte, und er wusste nicht, was er davon halten sollte.
Heinrich begann zu essen, und Veit schloss sich nach kurzem Zögern an. Das Mahl schmeckte wunderbar. Die Knechte mussten für gewöhnlich nicht hungern, sie aßen dreimal am Tag, zur Erntezeit sogar viermal. Aber das Brot war meistens schon alt, und der Käse trocken. Butter aufs Brot gab es nur selten. Dieses Brot hier war frisch, und die Butter kleinfingerdick draufgestrichen, und ein Brot hatte sogar noch Pflaumenmus drauf, wie köstlich. Die Suppe war warm und vor allem VIEL, und da waren auch noch der Quark, anscheinend waren Honig und Nüsse drin. Wunderbar süß und einfach nur gut. Veit seufzte wohlig. Er hatte die Augen geschlossen, und schmeckte und genoss jeden Bissen und vergaß alles um sich herum.
Heinrich beobachtete ihn heimlich. Da die Knechte meistens Kopf und Blick gesenkt hatten, konnte er deren Gesichter nicht richtig sehen. Jetzt studierte er Veits Gesicht mit den geschlossenen Augen. Veit war deutlich älter geworden, und schmaler. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Heinrich fand auch ein paar Narben, die früher da nicht gewesen waren. Aber sonst war es eindeutig Veits Gesicht. Heinrich wurde von Erinnerungen überflutet. Erinnerungen an eine Kindheit, in der sich alles nur um Pferde gedreht hatte. Sein Vater, wie er ihn auf ein Pony hob und lachte. Und Veit, der schier endlos mit ihm übte. Erst Reiten, dann wilde Jagden auf dem Pferd, und dann die Meisterdisziplin: ein Pferd zureiten, es ausbilden.
Veit war sein erster Lehrer gewesen und später dann, als Heranwachsender, sein größter Konkurrent. Egal wie er sich anstrengte, Veit war immer noch ein bisschen besser, und ziemlich überheblich, und Heinrich konnte sich gut erinnern, dass er ihn sogar eine Zeitlang gehasst hatte. Veit hatte gewusst, wie gut er war, und ließ sich das auch anmerken. Er war der Held gewesen.
Davon war jetzt nicht mehr viel zu sehen, und Heinrich schauderte. Offensichtlich hatte Veit viel Übles erlebt und es hatte ihn gebrochen. Es war an der Zeit, den Hass und die Konkurrenz zu begraben. Heinrich wartete still ab, bis Veit die Augen wieder öffnete. Ihre Blicke begegneten sich kurz, und dann senkte Veit den Kopf, so wie es sich gehörte.
Heinrich