Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
kann jeden Vormittag eine Stunde zu Alban gehen und den Abend nach wie vor mit Euch verbringen. Dann lernt Ihr halt nur eine Stunde statt viele Stunden am Nachmittag. Ihr habt doch Zeit. Frankreich läuft nicht davon, oder? Und außerdem, warum wollt Ihr mit Martin üben, wie man ein Pferd bereitet? So wie ich das gesehen habe, hat er nicht viel Talent dazu.“
Heinrichs Gesicht wurde heiß. Gingen seine Pläne den Verwalter etwas an? Hm, vermutlich schon. Wenn er tatsächlich Pferde bereiten oder gar züchten würde, dann müssten die Stallungen repariert werden, oder am besten gleich neue gebaut werden. Das ging nicht ohne den alten Geizkragen.
Heinrich seufzte also ergeben und meinte: „Ich will was Sinnvolles tun. Mein Vater hat damals Pferde gezüchtet und beritten, und das will ich auch wieder machen.“ Unsicher sah er Ulrich an. Der fragte: „Ihr wollt Pferde bereiten und züchten? Ihr wisst, dass das viel Arbeit ist? Und dass Ihr das alleine nicht hinbekommt?“ Heinrich wurde ungeduldig. „Ja, das weiß ich. Deswegen wollte ich ja, dass Martin mir hilft.“
Ulrich überlegte eine Weile und fragte dann: „Was ist mit Veit? Warum nehmt Ihr den nicht?“
Heinrich war sprachlos. Veit? Den hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte gedacht, dass Veit weggegangen oder gestorben war. Anscheinend gab es ihn doch noch, aber warum hatte er ihn so lange nicht gesehen? Heinrich bemerkte, wie in seinem Herzen ein Kampf begann. Veit wäre natürlich der Allerbeste für seine Pläne, aber es war auch Veit gewesen, der Heinrich nie ernst genommen hatte und immer besser und schneller als er gewesen war. Heinrich hatte keine Lust, wieder nur die zweite Wahl zu sein und sich täglich von seinem ehemaligen Freund demütigen zu lassen. Er stutzte. Die Dinge waren anders als früher, er war ja jetzt der Herr auf diesem Gut, Veit würde sich unterordnen müssen. Trotzdem: so wie er Veit kannte, würde der ihm mit Blicken und Gesten ganz genau zeigen, wer der Bessere war. Heinrich war verwundert, wie groß der Groll in seinem Herzen war. Ulrich sah Heinrich zaudern und meinte: „Wenn Euch jemand helfen kann hier, dann Veit. Ihr müsstet ihn halt begnadigen und ihm die Fußketten abnehmen lassen.“
Heinrich sah ihn sorgenvoll an. Knechte, die Halseisen oder Fußketten trugen, hatten die ja nicht umsonst. Sie abnehmen zu lassen, war ein Zeichen von Schwäche, das die Dienstboten sicher ausnutzen würden. Diese Diskussion hatte er mit seinem Verwalter schon so oft geführt, aber Ulrich gab einfach nicht auf. Der Vater hatte Veit damals die Fußeisen verpasst, und Heinrich hatte sich gefreut. Der Vater hatte sicher einen Grund gehabt, er….
Heinrich schluckte schwer. Immer wieder schien er zu vergessen, welcher Drecksack sein Vater gewesen war. Vielleicht hatte er sich auch hier geirrt? Er fragte den Verwalter kurzangebunden: „Was ist passiert? Wo war Veit die ganze Zeit? Warum hat er die Fußketten?“
Der Verwalter versuchte, sich etwas bequemer hinzusetzen. Im Bett herumliegen war nicht das, was er gerne tat. Er bat Heinrich, ihm und sich selbst einen Becher gewässerten Wein einzuschenken, was Heinrich auch tat. Er war neugierig, was er jetzt zu hören bekommen würde.
Ulrich trank einen Schluck und schaute dann nachdenklich in seinen Becher hinein. Heinrich hatte also nicht gewusst, dass es Veit noch gab. Es war schon erstaunlich, wie wenig Ahnung er von seinem eigenen Gut gehabt hatte. Gottlob war das jetzt anders. Ulrich begann:
„Ihr wisst ja, dass Euer Vater mit Veit die Pferde beritten und gezüchtet hat. Die beiden waren jeden Tag zusammen. Aber es gab… Unstimmigkeiten. Euer Vater hat Veit in den Kerker werfen lassen. Er war acht Monate dort und danach hat er die Fußketten bekommen, damit er nicht mehr reiten konnte. Die Leute auf dem Gut haben ihn gemieden, und er hat sich zurückgezogen. Sein Vater war mein bester Freund, und deswegen gebe ich ihm immer Arbeit, bei der er für sich sein kann. Er ist gerne auf den Weiden oder Koppeln und bessert Zäune aus. Oft war er mit Martin im Wald. Er isst nicht mit den anderen, sondern verzieht sich irgendwo hin. Auch zu den Feiertagen, wenn es Geschenke gibt, ist er nicht mit den anderen zusammen, sondern vergräbt sich irgendwo. Die Geschenke gebe meistens ich ihm. Er geht den Leuten aus dem Weg, deswegen habt Ihr ihn vermutlich nicht gesehen.“ Ulrich schwieg und vermied es, Heinrich anzublicken.
Heinrich bemerkte, dass er auf seinen Fingernägeln kaute, wie immer, wenn ihn etwas beschäftigte. Er sah an Ulrichs Gesicht, dass er nicht alles gehört hatte. Was waren „Unstimmigkeiten?“ Heinrich stellte seinen Wein ab und wartete, bis Ulrich ihn ansah. Dann fragte er: „Was ist passiert? Könnt Ihr mir bitte die Wahrheit sagen? Ich weiß, dass hier am Gut viel Übles passiert ist? Wie soll ich das denn wiedergutmachen, wenn ich gar nicht weiß, was genau los war?“
Ulrich zögerte immer noch, aber Heinrich hatte Recht. Anscheinend wollte der junge Herr die Dinge tatsächlich wiedergutmachen, also würde Ulrich ihm genauer erklären müssten, was passiert war. Es war schwer für ihn, sehr schwer. Der alte Herr hatte ihm vor vielen Jahren, als er als Krüppel vom Krieg heimkehrte, die Arbeit als Verwalter gegeben und ihn aus Hunger und Not gerettet. Ulrich war ihm dankbar, und doch: Schuft blieb Schuft, auch wenn man offiziell befreundet war.
Für ein paar Augenblicke bemitleidete Ulrich sich selbst. Warum eigentlich musste immer er dem Herrn Heinrich erklären, welche Idioten seine Familienangehörigen gewesen waren? Er hatte ihm sagen müssen, was sein Vater seiner Mutter und Martins Familie angetan hatte. Und jetzt musste er ihm erzählen, welch übles Ungeheuer sein Onkel gewesen war, und wie dumm und überheblich sein Vater. Gab es hier denn niemand anderen, der das übernehmen konnte?
Ulrich schluckte schwer. Nein, es gab niemand anderen.
Er holte tief Luft und begann:
„Euer Vater und Veit haben eigentlich wunderbar zusammengearbeitet. Veit hat rund um die Uhr gearbeitet, aber es hat ihm nichts ausgemacht, es war ja das, was er liebte. Euer Vater hat jeden Tag beim Bereiten geholfen, er hat die Bodenarbeit gemacht, während Veit auf dem Pferd war. Er hat Pferde gekauft und verkauft und hat entschieden, wie gezüchtet wird, und Veit hat die Arbeit gemacht. Es wäre so gut gewesen, wenn nicht Euer Onkel Markwart aus dem Krieg gekommen wäre. Er hat den ganzen jungen Leuten am Gut nachgestellt, und sein größter Preis war Veit. Nicht, weil Veit besonders schön gewesen war, sondern wegen Veits Stellung. Ihr wisst ja, dass Veit einen Hang zum Hochmut hatte, und das hat Markwart gereizt. Veit ist ihm aus dem Weg gegangen und hat sich viel an Euren Vater gehalten, und das ging lange gut. Markwart hat versucht, ihn mit Schmeicheleien und Geschenken gefügig zu machen, aber Veit hat sich nicht einfangen lassen. Der Trottel!
Jeder am Gut hat gewusst, dass niemand gegen Marquart ankommt. Doch Veit hat gedacht, er würde das Machtspiel gegen Marquart gewinnen, weil er was Besonderes war, weil Euer Vater ihn sicher schützen würde. Doch Ihr wisst selbst, dass…. dass Euer Vater nicht immer die klügsten Entscheidungen getroffen hat.“
Heinrich nickte betroffen. Sein Vater hatte viel falsch gemacht. Allerdings wusste Heinrich auch, dass Veit wirklich überheblich und eingebildet gewesen war, der große Held. Ein kleiner Dämpfer hatte ihm sicher nicht geschadet.
Der Verwalter fuhr fort: „Eines Abends hat Markwart versucht, Veit in sein Bett zu bekommen, und Veit hat sich gewehrt. Er hat Markwart sogar gebissen, im Gesicht und an einer sehr delikaten Stelle.“ Ulrich wurde rot, und Heinrich konnte sich gut vorstellen, welche Stelle das gewesen war. Das hatte sicher sehr weh getan. „Marquart hat geschäumt vor Wut und hat Veit vor Euren Vater geschleift. Er hat so lange getobt, bis Euer Vater Veit in das dunkle Verlies im Kerker gesteckt und dort angekettet hat. Ihr wisst schon, das Verlies ohne Fenster. Er war da acht Monate lang, und Markwart war fast jeden Tag unten, um sich zu rächen.“
Heinrich schauderte. Sein Onkel war ein böser Mensch gewesen. Unvorstellbar, diesem Ungeheuer so lange so hilflos ausgeliefert zu sein. Ulrich hing wohl ähnlichen Gedanken nach, denn er schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort:
„Nach acht Monaten hat Euer Vater Veit aus dem Kerker geholt, warum auch immer. Doch Markwart wollte seine Rache nicht aufgeben, und hat durchgesetzt, dass er Fußketten bekommt, um nie mehr reiten zu können. Er wollte nicht nur Veits Körper und Seele zerstören, sondern seine Rachegelüstet gingen so weit, dass er Veit für die Ewigkeit zerstören wollte. Er wollte erreichen, dass Veit sich selbst das Leben nimmt und dann nicht in den Himmel kommt. Er wollte ihm den ewigen Frieden und die ewige Seligkeit nehmen. Veit war gebrochen, aber er hat sich nicht das Leben