Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
Es machte ihm riesige Freude, und zum Schluss trabte er noch mit ihr, allerdings nur eine Runde. Sein Bein begann, aufzumucken und zu schmerzen. Der frisch zusammengewachsene Knochen und die große Narbe brauchten wohl noch ein bisschen, um sich an das Reiten zu gewöhnen.
Strahlend stieg Heinrich ab. Oder, besser gesagt: er glitt wie ein Sack vom Pferd und Martin fing ihn auf. Hinkend führte er Alba zurück und übergab sie dann an Martin, der sie versorgte. Heinrich sah zu, und dann gingen sie zusammen zurück ins Warme.
In seiner Kammer sank Heinrich glücklich in seinen Sessel, froh, nicht mehr stehen zu müssen. Auf seinen Wink hin setzte Martin sich ebenfalls. Er war auch froh, allerdings hauptsächlich darüber, dass nichts passiert war. Heinrich sah ihn zufrieden an und meinte dann: „Danke, Martin. Danke, dass Du mich gezwungen hast und danke, dass Du da warst. Das hat viel geholfen.“
Martin lächelte ihn scheu an, was nur sehr selten vorkam.
Allerdings verschwand das Lächeln wieder, als Heinrich verkündete: „Und morgen bist Du dran mit Reiten.“
„Was?“
„Ab morgen bringe ich Dir das Reiten bei.“
Martin wand sich. Er war noch nie geritten, und das sagte er dann auch. Heinrich erklärte ihm, dass sie zusammen ausreiten könnten und wie schön es doch wäre, Dinge zu unternehmen. Martin überlegte einige Momente und fragte dann: „Warum wollt Ihr mit mir ausreiten? Warum wollte Ihr mit mir Dinge unternehmen?“
Heinrich sog scharf die Luft ein. Sollte er Martin nun sagen, warum er so freundlich war? Sollte er das Thema endlich ansprechen? Am liebsten hätte er sich in seinem Bett verkrochen. Heinrich fehlte der Mut. Sicherlich würde er um Verzeihung bitten müssen, und das hatte er noch nie getan. Einen ranghöheren Mann noch nicht, und einen leibeigenen Knecht schon gleich gar nicht. Wie es sich wohl anfühlte, um Verzeihung zu bitten? Ob es sehr demütigend war? Und was, wenn Martin ablehnte?
Heinrich stellte es sich furchtbar vor, jemanden um Verzeihung zu bitten und dann abgewiesen zu werden. Vielleicht musste er ja gar nicht bitten. Vielleicht könnten sie reden, beschließen Brüder zu sein und alles wäre gut. Er scheute dieses Gespräch wie der Teufel das Weihwasser. Er würde mit Martin darüber sprechen müssen. Irgendwann. Aber nicht heute, am Tag seines Erfolges: Er war wieder geritten, und sein Herz jubelte.
Die nächsten Tage waren sehr ausgefüllt für Heinrich. Er besprach sich des Morgens mit dem Verwalter, ritt nachmittags auf dem Platz, während Martin danebenstand, und er brachte Martin das Reiten bei. Martin stellte sich leidlich an, aber ein wirklich guter Reiter würde er wohl leider nicht werden. Aber vielleicht würde es ausreichen, dass sie ausreiten könnten. Sie verbrachten täglich sicher zwei bis drei Stunden draußen, dann zogen sie sich in Heinrichs Kammer zurück und spielten Brettspiele, meistens Schach, bis des Abends Bruder Alban kam. Dann wurde gesungen.
Heinrich war glücklich. Er bemerkte, dass er seine Freunde überhaupt nicht vermisste, sein Leben war sehr erfüllt gerade. Das Reiten ging immer besser. Vielleicht konnte er ja doch wieder Pferde bereiten. Martin würde keine große Hilfe sein, aber vielleicht könnte ja einer seiner Freunde mitmachen, die waren alle exzellente Reiter.
Ein schöner und erfüllter März ging zu Ende. Heinrich und Martin wagten sich an die ersten Ausritte. Erst waren es nur kleine Runden, quasi vor das Tor und zurück. Dann wurden die Ausritte täglich länger, bis sie Mitte April schließlich bis zum See ritten. Martin ritt einigermaßen passabel, aber die schnellen Rennen, die er sich mit Veit und später seinen Freunden geliefert hatte, diese schnellen Rennen waren mit Martin nicht möglich. Er war sehr vorsichtig auf dem Pferd und raste nicht jubelnd und schreiend den Weg entlang. Überhaupt war Martin sehr vorsichtig. Heinrich war überzeugt, dass sie mittlerweile Freunde waren und Martin ihn ganz gut leiden konnte, und doch war Martin immer vorsichtig mit dem was er tat und sagte. Er war eher still, und doch konnte man mit ihm eine gute Zeit haben. Die Zeit mit Martin und später am Abend dann mit Alban war so ganz anders als alles, was er davor mit seinen alten Freunden erlebt hatte. Da war keine Prahlerei, kein Besäufnis, keine Hurerei. Es waren Treffen mit freundlichen, nüchternen Leuten, mit denen er gerne zusammen war. Es waren ehrliche Treffen. Er hatte mit Martin so manches besprechen können, was er mit seinen Freunden nie so ehrlich besprochen hätte. Und doch: das eine große Thema, seine Schuld, das mied er. Irgendwann würde er es ansprechen, aber nicht jetzt. Jetzt war alles gut so, wie es war.
Auch der April näherte sich seinem Ende zu, und Martin wurde merklich stiller. Er zog sich in sich selbst zurück und begann, wieder öfter auf den Boden zu schauen, wenn er mit Heinrich sprach. Erst dachte Heinrich, Martin würde über irgendwelche verworrenen Theorien von Albans verehrten Theologen nachdenken, aber nach ein paar Tagen kam er zum Schluss, dass Martin wegen irgendetwas beunruhigt war. In der letzten Zeit hatte Martin sich mit ihm unterhalten, sogar einige Male selbst ein Gespräch angefangen. Nun wurden die Unterhaltungen wieder sehr einsilbig und einseitig. Irgendetwas war. Heinrich wartete ab, ob Martin ihn ins Vertrauen ziehen würde, aber nichts geschah. Also fragte er nach ein paar Tagen einfach: „Martin, was ist los mit Dir? Du wirkst besorgt und traurig?“
Martin sah ihn erschrocken an. Seine Augen waren groß, und wie so oft, wenn er nervös war, biss er auf seiner Unterlippe herum. Er meinte: „Nein, es ist nichts, ich denke nur nach.“
Heinrich war nicht überzeugt. „Und über was denkst Du nach?“ „Über… nichts.“ Martin sah ihn flehentlich an. Anscheinend wollte er nicht darüber sprechen.
Doch Heinrich ließ nicht locker. Nun konnte er seinem Halbbruder zeigen, dass er ihm helfen würde, und dass Martin ihm vertrauen konnte. Er hakte nach: „Nun?“
Martin starrte seine Fußspitzen an. Er zögerte, doch dann begann er: „Bruder Alban hat mir den Kalender erklärt, und wir haben geübt. In zwei Tagen ist der Geburtstag Eurer Mutter.“
Heinrichs Herz zog sich zusammen. Das hatte er ganz vergessen, weil seine Tage so voll waren. Nachdenklich ruhte sein Blick auf seinem Halbbruder, der nun zusammengesunken dasaß. Er hatte Martin viel schikaniert, und sich aber die letzten Jahre damit „begnügt“, ihn am Sonntag hungern und arbeiten zu lassen, und ihm am Geburtstag und Todestag seiner Mutter auf dem Friedhof an ihrem Grab vor allen Leuten des Gutes auszupeitschen. Das war seine Rache gewesen, und er hatte sein Recht dazu nie in Frage gestellt.
Seine Mutter hatte ihren Geburtstag Ende April, und gestorben war sie Anfang Juli. Nicht, dass Heinrich den Kalender lesen könnte. Der jeweilige Pfaffe musste ihn an die Jahrestage erinnern, meistens am Tag vorher. Heinrichs Herz zog sich noch mehr zusammen, als ihm klar wurde, dass Martin offensichtlich nicht davon ausging, dass die Dinge dieses Jahr anders sein würden.
Anscheinend hatte er das große Gespräch zu lange hinausgezögert. Was sollte er nun sagen? Wie sollte er anfangen? Er könnte um Verzeihung bitten. Trotzdem würde er aber erklären müssen, wofür. Er könnte Martin in die Arme schließen und ihn als Bruder willkommen heißen. Irgendwie fühlte sich das jedoch falsch an. Er könnte ihm sagen, dass er nichts zu befürchten hatte, und es gar nicht erklären. Doch Heinrich sah, dass Martin Angst hatte, und er fühlte sich schäbig.
Er könnte Martin einfach erzählen, dass er das große Geheimnis nicht gekannt hatte. Das fühlte sich irgendwie am Besten an, also tat er es Martin nach und starrte auf seine Fußspitzen, und begann:
„Weißt Du, mein Vater hat mir immer erzählt, dass meine Mutter sich das Leben genommen hat. Er hat mir erzählt, dass sie schwanger geworden ist von den Entführern und sich wegen der Schande das Leben genommen hat. Das habe ich geglaubt, und ich war entsetzlich wütend auf die Leute, die mir meine Mutter genommen haben. Im Januar hat mir der Verwalter erzählt, dass… dass.“
Heinrich hielt inne. Nein, er würde nicht weinen. Verzweifelt schaute er nach oben an die Decke und knetete seine Finger. Heinrich bemerkte, dass sein Halbbruder ihn ansah. Ihre Blicke trafen sich und Heinrichs Mut sank. Martins blaue Augen waren aus Eis, sein Gesicht aus Stein.
Also doch wieder die Fußspitzen, die waren gnädiger. Er richtete seinen Blick auf seine Schuhe und fuhr fort: „Der Verwalter hat mir im Januar erzählt, dass meine Mutter das Kind geboren hat und gestorben ist, um es zu schützen.