Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
Sie schwiegen eine Zeitlang, dann fragte Martin:
„Ihr habt das nicht gewusst?“
Heinrich schüttelte den Kopf, dann fragte er: „Hast Du mich deswegen aus dem Eisbach gerettet? Weil Du mein Halbbruder bist?“
Martin überlegte kurz und meinte:
„Nein. Niemand sollte im Eis erfrieren.“
Und niemand sollte hungern oder ohne Grund gequält werden, fügte Heinrich in Gedanken hinzu. Er sah Martin ins Gesicht und flüsterte: „Mein Vater war ein Mörder. Er hat … Deine Familie getötet.“
Martin nickte nur leicht. Heinrich musterte ihn verzagt. Wenn sein Gesicht doch nur weicher werden würde, wenn er doch nur lächeln und sagen würde, dass alles in Ordnung war, dass sie Freunde waren. Aber er sagte es nicht, Heinrich würde also den bitteren Weg zu Ende gehen müssen.
Er schloss die Augen und fuhr fort: „Mein Vater hat meine Mutter getötet und Deine Familie. Er hat Dich gequält, und…“. Heinrich holte tief Luft und ließ endlich das raus, was ihm auf der Seele lag: „Und ich habe mitgemacht. Ich habe Dich auch gequält und geschlagen, und Dich hungern lassen. Ich habe nicht gewusst, dass Du mein Halbbruder bist.“
Endlich sprach Martin auch. Ernst meinte er: „Es ist falsch, einen unschuldigen Menschen zu quälen, ganz gleich, ob Halbbruder oder nicht.“
Heinrich sah ihn erstaunt an. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Martin nahm seinen ganzen Mut zusammen und fügte hinzu: „Es gibt viele Leute hier, die für irgendwas büßen, obwohl sie nichts gemacht haben, oder zu mindestens nichts wirklich Schlimmes.“
Nervös rutschte Heinrich auf seinem Armstuhl herum. Vermutlich hatte Martin Recht, vermutlich war das so, aber er wollte jetzt nicht darüber reden. Jetzt war Martin dran.
Heinrich wollte das hier unbedingt zu Ende bringen, also meinte er: „Ich habe das alles nicht gewusst, und ich habe wohl alles falsch gemacht. Aber seit ich weiß, was wirklich passiert ist, habe ich mir Mühe gegeben, freundlich zu Dir zu sein. Ich würde all das gerne wieder gut machen. Du kannst gerne mein Freund sein, oder mein Bruder. Dir wird nichts Schlimmes geschehen. Übermorgen nicht, und im Juli an ihrem Todestag auch nicht.“
Es fehlte noch etwas, aber den fehlenden letzten Satz schob Heinrich vor sich her, es war zu hart. Konnte er sich so demütigen? Vielleicht reichte das, was er gesagt hatte, ja schon aus? Er riskierte er einen Blick auf Martins Gesicht. Es war viel weicher also vorhin, Martin sah plötzlich so jung aus, fast wie ein Kind. Das Eis in Martins Augen war verschwunden, viel mehr war sein Blick jetzt eher verwundert, oder vielleicht sogar hoffnungsvoll? Heinrich konnte den Blick nicht wirklich deuten. Martins Gesicht war ohne Maske, ohne Stein, ohne Eis, sehr offen und sehr weich.
Heinrich wusste, dass es jetzt sein musste, jetzt gleich. Er seufzte, zwang sich, den Halbbruder anzusehen und versuchte, zu sprechen. Es kam nur ein Krächzen heraus, und gegen seinen Willen musste Heinrich lachen. Anscheinend kämpfte alles in ihm gegen das, was er jetzt tun musste, auch seine Stimme. Er nahm einen Schluck Milch und schenkte auch seinem Halbbruder einen Becher voll ein. Er reichte ihm den Becher und Martin nahm ihn verwundert. Was der Herr Heinrich nur hatte? Er hatte schon so viel gesagt, mehr als Martin je für möglich gehalten hatte. Was konnte nun noch kommen? Er sah Heinrich zu, wie der in seinem Lehnstuhl herumzappelte. Schließlich schlossen sich Heinrichs Finger fest um die Armlehnen und er schaute Martin wild entschlossen an. Er begann:
„Mein Vater…“ und hörte wieder auf. Nein, sein Vater war tot. Er versuchte es erneut: „Ich habe Dir großes Unrecht getan, und es tut mir leid. Ich bitte Dich um Vergebung.“
Nun war es draußen, und Heinrich war froh. Es war gar nicht so schlimm gewesen.
Dann war er still. Martin konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Heinrich hatte sich entschuldigt, um Vergebung gebeten? Er wusste nicht so recht, was er jetzt sagen sollte, also nickte er nur. Heinrich entspannte sich. Martin hatte genickt, das war sicher ein gutes Zeichen. Er war froh, dass sie jetzt nicht viel reden mussten, er mochte emotionale Reden überhaupt nicht. Er hatte um Verzeihung gebeten, und Martin konnte das jetzt annehmen oder nicht. Er hatte es tatsächlich geschafft, und es fühlte sich gut an. Er hatte seinen Teil getan, und den Rest konnte er nicht beeinflussen. Heinrich hoffte natürlich, dass Martin seine Entschuldigung annehmen und sein Bruder sein würde. Heute, morgen, irgendwann, das spielte eigentlich keine Rolle.
Lange sprach niemand, und dann hatte Heinrich eine Idee: „Übermorgen gehen wir zusammen zum Grab meiner Mutter, wenn Du willst.“
Martin spürte, wie er sich verkrampfte. Er sollte mit zum Grab von Heinrichs Mutter? Was sollte er dort? Er war so oft neben dem Grab an einen Pfahl gefesselt gestanden und grausam geschlagen worden, er befürchtete, dass ihn die Erinnerungen übermannen würden.
Und doch, vermutlich war das Heinrichs ausgestreckte Hand, seine Einladung, tatsächlich ein Bruder zu sein. Und immerhin Heinrichs Mutter ja tatsächlich seine eigene Geburtsmutter gewesen, sie war sogar gestorben, um ihn zu schützen. Martin seufzte. Wenn sie ihn doch nur als Säugling Heinrichs Vater übergeben hätte, soviel Leid und Elend wäre ihm erspart geblieben. Und doch, sie war gestorben für ihn und sein Leben wurde momentan viel besser, als er es sich je erträumt hatte. Wieder nickte er. Er war nicht sicher, ob es das Richtige war, aber er hatte das Gefühl, das tun zu müssen. Die letzten Wochen hatte Martin geübt, Schönheit und Glück in Dingen und Situationen zu sehen und zu spüren. Vielleicht würde ihm das am Friedhof auch wieder gelingen?
Zwei Tage später besuchten sie gemeinsam in der Früh die Messe, die Bruder Alban für Heinrichs Mutter hielt. Martin hielt den Kopf gesenkt, als er neben Heinrich nach vorne zu den Sitzen für die Familie von Rabenegg ging. Er wollte nicht die Leute anschauen, die ihn sicher anstarrten. Gewiss, sie alle hatten mitbekommen, dass er viel Zeit mit Heinrich verbrachte und ihm half, aber vermutlich hätte niemand auch nur im Ansatz geglaubt, dass die beiden hier als Brüder zur Kirche kommen würden. Es fühlte sich seltsam an. Die letzten Jahre hatte er an einen Pfahl gefesselt gewartet, bis die Messe vorbei war. Und nun saß er neben Heinrich auf einer edel gestalteten Bank für die Familienangehörigen, während das Gesinde stand oder auf dem Boden kniete. Spätestens jetzt musste es allen klar sein, dass sich etwas massiv geändert hatte. Niemand hatte dem Gesinde verraten, dass Heinrich und Martin zusammen Brettspiele spielten und sangen, und dass Martin Unterricht bekam.
Sicherlich würde das alles das große Klatschthema die nächsten Tage sein.
Nach der Messe gingen alle auf den Friedhof und Heinrich verteilte vor der Kapellentür kleine Honigkuchen, wie er es immer zu den Jahrtagen seiner Mutter tat. Er verteilte Honigkuchen mit der Auflage an alle, für seine Familie zu beten.
Martin drückte sich hinter ihm in ein Eck in der Mauer. Als die Leute wieder an ihrer Arbeit waren, ging er mit Heinrich weiter. Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch betrat er den Friedhof neben der Kapelle. Die letzten Male, als er hier gewesen war, hatte Heinrich ihn vor dem Grab ausgepeitscht und ihn dann im Dreck liegen lassen. Dieses Mal gingen sie zusammen, nebeneinander. Martin wusste immer noch nicht so recht, was er davon halten sollte. Die Frau im Grab, Heinrichs Mutter, war nicht seine Mutter. Seine Mutter war die Müllerin gewesen. Trotzdem war es sehr freundlich von Heinrich, ihn mitzunehmen, es war etwas sehr Privates, Intimes. Es war Heinrichs Friedensangebot, seine ausgestreckte Hand. Martin hoffte, dass er das Ganze nicht ruinieren würde durch ein falsches Wort, eine falsche Geste, durch zu viel Gefühl oder auch durch zu wenig.
Sein Herz klopfte, als sie zu dem Grab kamen. Alte Erinnerungen stiegen an ihm hoch. Er sah den Pfahl, an den sie ihn immer gebunden hatten und die Panik stieg in ihm hoch. Weglaufen ging nicht, diesen Instinkt hatten sie gründlich ausgelöscht in ihm. Weglaufen wäre eine natürliche Reaktion gewesen, aber er konnte nicht. Ein Hund, der viele Jahre an der Kette gelegen hatte, würde vermutlich auch nicht weglaufen, so dachte Martin bitter.
Martin fühlte, wie er erstarrte, so wie er es schon oft getan hatte. In dieser Starre konnte man nicht rennen und nichts Gescheites reden, aber zumindest trafen einen die nachfolgenden schlimmen Dinge nicht so hart. Martin wusste nicht so richtig, auf was genau er wartete, aber nichts passierte. Keine harten