Wem gehört die Zukunft?. Jaron Lanier

Wem gehört die Zukunft? - Jaron Lanier


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die Welt von Wal-Mart. So erlebte ich schon damals den Prototypen für ein heute bekanntes Muster.

      Bei Wal-Mart erkannte man früh, dass Informationen Macht bedeuten und dass man mit einer digitalen Vernetzung seine Machtstellung konsolidieren konnte. Die ersten Server von Wal-Mart sammelten weltweit einfache, aber wertvolle Informationen: Was konnte wo und wann hergestellt werden, was konnte wann wohin transportiert werden, wer kaufte was, und wenn ja, wann und für wie viel? Früher wäre diese Datenbank nur in Teilen für einige wenige lokale Unternehmen von Bedeutung gewesen, die direkt davon betroffen waren, doch durch das Sammeln zahlreicher derartiger Informationen an zentraler Stelle entstand ein globales Gesamtbild. Die Netzwerktechnologie ermöglichte einen massiven Perspektivenwechsel. Der Konzern wurde allmählich zum Gestalter seiner eigenen Umwelt.

      Wal-Mart konnte praktisch den Preis und die Liefertermine diktieren, und das mit dem reduzierten Risiko und der Präzision einer Kampfdrohne. Stellen Sie sich vor, Sie hätten in den neunziger Jahren einen Betrieb für Wartung oder Ersatzteile. Ein Unternehmen, das Produkte an Wal-Mart verkauft, benötigt bestimmte Teile von Ihnen. Sie nennen Ihren Preis, doch daraufhin sagt man Ihnen: Tut uns leid, Wal-Mart hat einen Preis für unser Produkt festgelegt, der es uns nicht erlaubt, so viel zu zahlen, wie Sie verlangen.

      Wie sich herausstellt, hat Wal-Mart ziemlich genau kalkuliert, wo die Untergrenze für den Nettoprofit bei allen Beteiligten liegt. Oft müssen Sie dann feststellen, dass Sie auf die Preisvorstellung Ihres Kunden (gerade noch) eingehen können, auch wenn Sie sich eigentlich mehr vorgestellt haben.

      Wal-Mart benötigte nicht über alle Beteiligten direkte Informationen. Um ein Modell zu erstellen, genügen stichprobenartige Informationen über ein System. Das heißt, dass man jemanden indirekt ausspionieren kann, ohne dass man direkte Informationen über ihn sammelt. Stattdessen liefert das Verhalten derjenigen, die mit ihm interagieren, entsprechende Hinweise, aus denen sich automatisch ein grobes Gesamtbild erstellen lässt.

      Als die anderen großen Handelsketten erkannten, was Wal-Mart da gelungen war, engagierten sie ebenfalls Spezialisten und richteten ebenfalls große Rechenzentren ein. Aber es war zu spät. Wal-Mart hatte die Welt bereits umgestaltet und sich selbst eine Sonderstellung darin gegeben. Lieferanten hatten sich aufeinander abgestimmt, um die niedrigsten Preise bieten zu können, und alles war natürlich auf die speziellen Anforderungen von Wal-Mart zugeschnitten. Die Lieferkette war optimiert worden, um direkt vor die Haustür von Wal-Mart zu liefern.

      Wal-Mart betrog nicht, spionierte nicht und stahl auch nicht, um an die Informationen zu kommen.26 Der Konzern nutzte einfach die besten verfügbaren Computer, um mit legal verfügbaren Daten die bestmöglichen Statistiken zu erstellen.

      Die Gewinnspannen aller anderen wurden auf das absolute Minimum reduziert. Das war, wie wenn man Blackjack mit jemandem spielt, der über eine Inselbegabung verfügt und gar nicht anders kann, als die Werte der Karten zu berechnen. Das ist das moralische Problem der Sirenenserver. Im Netzwerkzeitalter kann es Absprachen geben, ohne dass sich die Beteiligten wirklich absprechen, und Verschwörungen ohne Verschwörer.

      Aus der Sicht des Kunden

      Wal-Mart bot seinen Kunden zwei interessante Veränderungen. Die eine war, dass die Waren, die sie kaufen wollten, billiger wurden, was natürlich großartig war. Diese Neuerung wurde zuerst bekannt und sorgte für großen Jubel.

      Es gab jedoch noch eine andere Veränderung, die erst allmählich ans Licht kam. Es wird oft betont, dass Wal-Mart eine entscheidende Rolle bei der Zerstörung von Arbeitsplätzen spielt und dass gerade die Menschen ihre Arbeit verlieren würden, die auch bei Wal-Mart einkaufen.[11] Wal-Mart hat die Welt in einem bestimmten Sinn effizienter gemacht. Die Produktion wurde an jeden beliebigen Ort der Welt verlagert, je nachdem wo die Produktionskosten am niedrigsten waren, und Lieferanten, die zu maximalen Einsparungen bereit waren, wurden belohnt.

      Die Verteidiger von Wal-Mart räumen vielleicht eine gewisse Fluktuation am Arbeitsmarkt ein, erklären aber, die effizientere Marktgestaltung habe zwar einige Arbeitsplätze gekostet, doch weitaus mehr Menschen hätten dank der niedrigen Preise viel Geld gespart. Langfristig profitiere jeder von der gestiegenen Effizienz.

      Man kann von einer effizienteren Gestaltung der wirtschaftlichen Prozesse durchaus erwarten, dass sich langfristig die Chancen für alle verbessern.27 Trotzdem darf man die beiden Seiten der Gleichung, die niedrigen Preise einerseits und die schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt andererseits, nicht zueinander ins Verhältnis setzen.

      Das ist so offensichtlich, dass es seltsam ist, eigens darauf hinzuweisen, aber ich habe festgestellt, dass man Menschen, die wohlhabend sind, dieses Argument nur schwer vermitteln kann. Also: Wenn man mehr als genug zum Leben hat, ist es ein angenehmer Vorteil, beim Einkaufen Geld zu sparen. Aber wenn das Geld ohnehin nicht reicht, dann kann man Sparen nicht mit einem angenehmen »Schnäppchen« vergleichen, denn das Sparen ist bereits ein fester Bestandteil des Alltags, weil man jeden Tag gerade so durchkommt, wenn man scharf kalkuliert. Man kann nie genug sparen, um aus der Misere herauszukommen, wenn man keine ausreichenden Jobaussichten hat.

      Für mich ist das ein falscher Vergleich, der in den neunziger Jahren jedoch oft zu hören war und eine Vorahnung auf das bot, was man uns heute über kostenlose Angebote im Internet erzählt. Technologieunternehmen argumentieren ähnlich, aber auch ihre Begründungen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als fadenscheinig. »Sicher gibt es weniger Arbeitsplätze, aber heutzutage ist so vieles kostenlos. Heute kann man auf Reisen auf der Couch von Fremden übernachten und muss nicht mehr ins Hotel!« Der Vergleich ist heute so falsch wie damals. Kostensenkungen sind kein Ersatz für finanzielle Sicherheit, wenn es gleichzeitig immer weniger gute Jobs gibt.

      Die Botschaft der Sirenenserver ist stets zweischneidig, wie das Beispiel Wal-Mart zeigt. Erst heißt es: »Gute Nachrichten! Aktuelle Angebote warten auf Sie! Informationssysteme machen die Welt für Sie effizienter.«

      Doch ein bisschen später wird dann verkündet: »Aber wie sich gezeigt hat, sind Sie, Ihre Bedürfnisse und Erwartungen von der erhabenen Warte unseres Servers aus betrachtet nicht ausreichend effizient. Deshalb formen wir die Welt neu, und Ihre Aussichten werden sich langfristig gesehen verschlechtern.«

      Die anfänglichen Vorteile können die langfristigen Verluste bei weitem nicht wettmachen. Anfangs kommen Sie durch kurzfristige Börsenspekulationen vielleicht zu etwas Geld, erhalten einen irrsinnig günstigen Kredit, sparen Geld dank »Couchsurfing« oder indem Sie Gutscheine von einer Website einlösen, aber dann verlieren Sie Ihren Job, danach kommt die Zwangsräumung und dann ist die Hälfte Ihrer Ersparnisse futsch, weil die Aktienkurse eingebrochen sind. Oder Sie haben sich begeistert kostenlos Musik heruntergeladen, aber dann gemerkt, dass Sie selbst leider nicht mit Musik Ihr Geld verdienen können, weil es in der Musikindustrie (oder dem, was noch von ihr übrig ist) kaum noch sichere Jobs für die Mittelschicht gibt. Vielleicht fanden Sie auch die supergünstigen Preise in Ihrem Lieblingssupermarkt toll, aber dann mussten Sie feststellen, dass die Fabrik, für die Sie später einmal arbeiten wollten, für immer dichtgemacht hat.

      Sirenenserver in der Finanzbranche

      Die Welt der Finanzserver und Quant-Fonds ist noch geheimnisvoller als die Konzernimperien von Wal-Mart oder Google. Auch in diese Welt habe ich einen Einblick, allerdings lässt sich nur schwer abschätzen, wie viel ich von dem sehe, was tatsächlich abläuft.

      In der Anfangsphase, die ich größtenteils verpasst habe, verstärkte die digitale Vernetzung das Interesse an dem, was bislang zu den Randbereichen der Finanzwelt gezählt hatte. Die Vernetzung der Finanzbranche begann in den achtziger Jahren, kam aber erst in den neunziger Jahren zur vollen Blüte. Zum ersten Mal waren Verfahren in der Lage, die prädigitalen Grenzen des menschlichen Reaktionsvermögens zu überschreiten.

      Die Vernetzung der Finanzbranche erfolgte unabhängig und vor der Verbreitung des eigentlichen Internets, mit anderen technischen Protokollen und einer anderen Infrastruktur, auch wenn ähnliche Prinzipien angewandt wurden.

      Erste Etappen bei der Entwicklung einer digital vernetzten Finanzbranche waren der Schwarze Montag 1987 (ein Börsencrash, der durch den automatisierten


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