Wem gehört die Zukunft?. Jaron Lanier
verabschieden und stattdessen ein universales System der Mikrozahlungen aufbauen, könnten eine neue Form der Mittelschicht und eine ehrlichere Informationsökonomie entstehen. Womöglich wären wir sogar in der Lage, die Freiheit des Einzelnen und die Selbstbestimmung zu stärken, auch wenn die Maschinen immer besser werden.
In diesem Buch geht es um futuristische Wirtschaftsformen, im Grunde aber darum, wie wir Menschen bleiben können, wenn unsere Maschinen so hochentwickelt sind, dass sie quasi autonom werden. Dieses Buch ist damit gewissermaßen Science-Fiction in Form eines Sachbuchs. Man könnte es auch eine Art spekulative Streitschrift nennen. Ich werde argumentieren, dass die Art, wie wir unsere Welt bisher um digitale Netzwerke herum organisiert haben, nicht nachhaltig ist und dass es mindestens eine nachhaltigere Alternative dazu gibt.
Das Moore’sche Gesetz verändert die Bewertung der Menschen
Unter den Technologen ist das Denken über die Zukunft seit der Jahrtausendwende hauptsächlich von der Erfahrung mit digitalen Netzwerken beeinflusst, die mit Hilfe der Unterhaltungselektronik genutzt werden. Ein junger Mensch muss heute nur noch ein paar Jahre und nicht mehr ein ganzes Leben lang warten, bis sich Veränderungen im Sinne des Moore’schen Gesetzes vollziehen.
Das Moore’sche Gesetz ist das Leitprinzip und wahre Grundgesetz des Silicon Valley. Es besagt, dass die Leistungsfähigkeit von Computerchips immer schneller wächst. Diese Verbesserungen türmen sich nicht einfach auf wie bei einem Steinhaufen, der immer höher wird, wenn man mehr Steine hinzufügt. Anstatt sich zu summieren, vervielfachen sich die Verbesserungen. Offensichtlich verdoppelt sich die Leistung der Technologie etwa alle zwei Jahre. Das bedeutet, dass die Leistung von Mikroprozessoren nach vierzig Jahren um das Millionenfache gesteigert wurde. Niemand weiß, wie lange sich dieser Prozess fortsetzen lässt. Auch darüber, warum das Moore’sche Gesetz und ähnliche Muster existieren, ist man sich nicht einig. Handelt es sich um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, also quasi um Autosuggestion, oder um eine unvermeidliche, wesentliche Eigenschaft der Technologie? Was auch immer da vor sich geht, der Rausch des sich beschleunigenden Wandels ruft in manchen einflussreichen Technologiekreisen geradezu religiöse Ehrfurcht hervor.
Das Moore’sche Gesetz bedeutet, dass man immer mehr kostenlos erledigen könnte, wenn da nicht die Leute wären, die bezahlt werden wollen. Der Mensch ist beim Moore’schen Gesetz quasi der Haken an der Sache. Wenn der Betrieb von Maschinen unglaublich billig wird, wirken Menschen vergleichsweise teuer. Früher waren Druckmaschinen teuer, daher schien es ganz selbstverständlich, Journalisten angemessen dafür zu bezahlen, dass sie die Zeitung füllten. Erst als die ersten Gratiszeitungen auftauchten, schien es mit einem Mal unvernünftig, Leute überhaupt noch zu bezahlen. Durch das Moore’sche Gesetz können Löhne und Gehälter – ebenso wie das soziale Netz – plötzlich wie ungerechtfertigter Luxus wirken.
Unsere direkte Erfahrung mit dem Moore’schen Gesetz bestand bislang vor allem darin, dass es uns billige Waren bescherte. Die gestern noch unerschwingliche Kamera ist heute eine von vielen Funktionen an unserem Mobiltelefon, das wir schon bald wieder gegen ein neues austauschen. Mit der millionenfachen Leistungssteigerung in der Informationstechnologie wurden sämtliche Einsatzmöglichkeiten ebendieser Technologie immer billiger. Daher erwartet man heute, dass Online-Dienste (und nicht nur Nachrichten, sondern auch zeitgemäße Erscheinungen wie Suchdienste oder soziale Netzwerke) kostenlos sind, wobei »kostenlos« in dem Fall bedeutet, dass wir im Gegenzug stillschweigend einwilligen, uns ausspionieren zu lassen.
Unverzichtbar, aber wertlos
Während Sie dies lesen, sind Tausende Computer irgendwo auf der Welt damit beschäftigt, heimlich erstellte Datenmodelle von Ihnen zu verfeinern. Was ist so interessant an Ihnen, dass man sich die Mühe macht, Sie auszuspionieren?
Die Cloud wird von Statistiken gesteuert, und selbst die unwissendsten, langweiligsten, trägsten und unbedeutendsten Personen liefern der Cloud heutzutage Informationen. Diese Daten könnte man als echten Mehrwert betrachten, aber das stimmt nicht. Stattdessen führen unsere Blindheit und die Art, wie wir diesen Wert berechnen, zum allmählichen Zusammenbruch des Kapitalismus.
Bei diesem System gibt es langfristig betrachtet keinen Unterschied zwischen einem schlecht ausgebildeten und einem gut ausgebildeten Menschen. Im Moment führen viele gut ausgebildete Menschen noch ein angenehmes Leben in unserer softwarevermittelten Welt, doch wenn sich nichts ändert, werden diejenigen, denen die besten Rechner und größten Rechenzentren gehören, mit der Zeit als die einzige Elite übrig bleiben. Um das zu verstehen, werfen wir einen Blick auf die Chirurgie, weil die technologische Entwicklung bei den Operationstechniken ähnliche Folgen haben könnte wie die Digitalisierung etwa in der Musikindustrie.
Die Aufnahme von Musik war früher ein mechanischer Vorgang, doch heute läuft alles digital, weshalb Musik zu einer Netzwerkdienstleistung wurde. Früher wurden in den Presswerken Schallplatten oder CDs produziert und von Lastwagen an die Läden ausgeliefert, wo sie dann vom Verkaufspersonal verkauft wurden. Dieses System wurde zwar nicht völlig zerstört, dennoch ist es heute üblich, dass man Musik einfach sofort über ein Netzwerk bezieht. Ein beträchtlicher Anteil der Mittelschicht lebte früher von der Musikindustrie, aber das ist vorbei. Die Nutznießer des digitalen Musikgeschäfts sind in erster Linie die Betreiber der Netzwerkdienste, die Musik im Austausch gegen Daten kostenlos zur Verfügung stellen, um ihre Dossiers und Datenmodelle über jeden einzelnen Nutzer zu vervollständigen.
Eine ähnliche Entwicklung könnte sich in der Chirurgie vollziehen. Nanoroboter und die holografische Endoskopie oder einfach Roboter, die heute noch Endoskope steuern, könnten eines Tages eine Herzoperation durchführen. Diese Geräte hätten wirtschaftlich ähnliche Auswirkungen wie die MP3-Player und Smartphones für den Musikkonsum. Unabhängig von den Details würde man die Chirurgie als Informationsdienst betrachten. Allerdings ist die Rolle der menschlichen Chirurgen in diesem Fall nicht von vornherein festgelegt. Sie werden unverzichtbar bleiben, weil sich die Technologie auf Daten stützt, die von Menschen kommen, aber noch ist nicht entschieden, ob ihre Arbeit dann noch in dem Maße geschätzt wird, dass sie auch gut bezahlt wird.
Allgemeinärzte in den USA klagen über eine neue Form von Konkurrenz, weil sie nicht an den Netzwerken partizipieren, die zur Vermittlung von medizinischen Leistungen entstanden sind. Versicherungen und Pharmakonzerne, Klinikketten und verschiedene andere clevere Netzwerkprofiteure waren da klüger. Niemand, nicht einmal ein Herzchirurg, sollte so tun, als ob er völlig immun gegen diese Entwicklung wäre.
Es wird immer Menschen geben, viele Menschen, die Daten liefern, um eine beliebige Technologie im Netzwerk umzusetzen oder sie besser und billiger zu gestalten. Ich schlage ein alternatives, nachhaltiges System vor, das die Menschen weiterhin berücksichtigt und belohnt, unabhängig vom technologischen Fortschritt. Wenn wir den derzeitigen Weg fortsetzen, werden die Vorteile hauptsächlich den Hütern der Computer zukommen, die medizinische Daten kanalisieren und sammeln, indem sie Ärzte und Patienten ausspionieren.
Der Strand am Rand des Moore’schen Gesetzes
Es gibt in der Silicon-Valley-Religion, wenn man so will, eine Art paradiesische Vorstellung: Wir erwarten von der Mechanisierung Unsterblichkeit. In der utopischen Technologiekultur geistert die Idee herum, dass Menschen (nun ja, vielleicht nicht alle) irgendwann in diesem Jahrhundert – vielleicht schon in ein, zwei Jahrzehnten – in Computerserver in der Cloud5 hochgeladen und in der virtuellen Realität unsterblich werden. Oder dass wir, falls wir unsere Körper noch eine Weile erhalten können, von einer Welt umgeben sein werden, in der Roboter als dienstbare Geister umherschwirren und uns immer zur Verfügung stehen. Wie ein genusssüchtiger Magier schweben wir von einem Vergnügen zum nächsten. Wir müssen gar nicht erst aussprechen, was wir uns von der Welt wünschen, denn die Computerstatistiken in den Clouds haben uns so gut modelliert, dass uns jeder Wunsch von den virtuellen Lippen abgelesen wird.
Stellen Sie sich folgende Szene vor, die sich in einigen Jahrzehnten abspielen wird: Sie sitzen an einem Strand. Eine Möwe mit neuronaler Schnittstelle hockt vor ihnen und scheint mit ihnen zu sprechen. Sie sagt Ihnen, dass es Sie vielleicht interessieren wird, dass Nanoroboter gerade Ihre