Wem gehört die Zukunft?. Jaron Lanier
das diese Vogelnachricht und auch die automatische Herz-OP durch Google finanziere – oder was für ein Unternehmen es auch immer sein mag, das in der Zukunft diese Art Vermittlungsdienste anbietet.
Wenn der Wind weht, zeigt sich, dass die treibenden Blätter in Ihrer Umgebung in Wirklichkeit geschickt durch Biotechnik gesteuerte Roboter sind, die den Wind dazu nutzen, sich als schützende Hülle um Sie zu legen. Ihre Wünsche und Bedürfnisse werden automatisch analysiert. Aus dem Sand bildet sich eine Robotermasseurin und verabreicht Ihnen eine Shiatsu-Massage, während Sie in Ihrem gerade entstandenen Blätterkokon dem Flüstern des Windes lauschen.
Es gibt endlose Variationen solcher Geschichten über die baldige allgegenwärtige Verfügbarkeit von Hightech. Manche findet man in Science-Fiction-Romanen, doch häufiger sind diese Visionen Gegenstand ganz normaler Unterhaltungen. Sie sind omnipräsent in der Kultur des Silicon Valley und Teil der dortigen Atmosphäre. Man hört die Leute darüber reden, wie billig Rechnerleistungen einmal sein werden. Und wie viele neuartige Materialien es geben wird, und die mit ihnen verbundenen Eigenschaften haben immer etwas Übersinnliches an sich.
Dieses Schema bildet den Hintergrund Tausender Gedankenspiele und liefert die Motivation für Startup-Unternehmen, Fortbildungsseminare und Karrieren. Die Schlüsselbegriffe in diesem Zusammenhang lauten »Accelerating Change«, »Fülle« und »technologische Singularität«.
Der Preis des Paradieses
Meine Geschichte von der sprechenden Möwe erscheint mir selbst ein bisschen kitschig und gekünstelt, aber so wirkt jedes Szenario, bei dem sich Menschen vorstellen, wie das Leben ohne alle Beschränkungen aussehen könnte.
Doch den Verlust aller Beschränkungen müssen wir nicht fürchten. Utopisten gehen von einem zukünftigen Zustand der »Abundanz« (»Fülle«) aus, nicht weil man ihn sich leisten kann, sondern weil er kostenlos ist, vorausgesetzt wir akzeptieren unsere ständige Überwachung.
Anfang der achtziger Jahre begann ein ursprünglich kleiner Kreis begabter Technologen, Konzepte wie Privatsphäre, Freiheit und Macht neu zu interpretieren. Ich war schon früh an diesem Prozess beteiligt und half bei der Formulierung vieler Ideen mit, die ich nun in meinem Buch kritisiere. Aus den Ideen einer kleinen Subkultur hat sich mittlerweile die dominierende Sichtweise auf die Computerwelt und die softwarevermittelte Gesellschaft entwickelt.
Einige Mitglieder dieser sogenannten »Hacker-Kultur« vertraten die Ansicht, dass Freiheit den Schutz der Privatsphäre mittels Krypto-Technologie bedeutete. Ich erinnere mich an den Nervenkitzel, als wir etwa um das Jahr 1983 herum am Massachusetts Institute of Technology (MIT) militärische Verschlüsselungsmethoden anwandten, nur um darüber zu diskutieren, wer die Pizza bezahlen sollte.
Einige der Freunde, mit denen ich mir damals die Pizza teilte, wurden später sehr reich, weil sie gigantische Dossiers mit personenbezogenen Daten anlegten, die von Finanzinstituten, von Werbeagenturen, Versicherungsgesellschaften oder anderen Konzernen genutzt werden, die davon träumen, die Welt per Fernbedienung zu steuern.
Es ist typisch menschlich, die eigene Heuchelei oft nicht zu bemerken. Je größer die Heuchelei, desto unsichtbarer wird sie normalerweise, und wir Technikfreaks sind in dieser Disziplin besonders gut. Wir schaffen es spielend leicht, die Verschlüsselung für Technikexperten und das massive Ausspionieren der einfachen Bürger unter einen Hut zu bringen. So bekomme ich immer wieder zu hören: Auf den Schutz der Privatsphäre normaler Menschen könne man verzichten, weil sie ohnehin bald irrelevant sei.
Die Überwachung der ahnungslosen Masse durch einige Auserwählte, die über die Technologie verfügen, ist demnach hinnehmbar, weil man davon ausgeht, dass am Ende ohnehin alles für alle transparent sein wird. Netzwerkbetreiber wie Cyber-Aktivisten scheinen zu denken, dass die Netzwerkserver der Elite, die die Informationshoheit besitzen, irgendwann harmlos sein oder sich einfach in Wohlgefallen auflösen werden.
Folgt man den digitalen Utopien, in denen der Einsatz von Computern durch und durch gut und ultra-billig ist, müssen wir uns keine Sorgen über die Netzwerkunternehmen der Elite machen, die sich aus den heutigen Derivatefonds entwickelt haben oder aus Silicon-Valley-Firmen wie Google oder Facebook. In der zukünftigen Welt der Fülle ist jeder mit Begeisterung offen und großzügig.
Bizarrerweise nehmen die Endzeit-Utopien der meisten begeisterten libertären Hightech-Anhänger meist eine sozialistische Wendung. Alle Genüsse und Annehmlichkeiten des Lebens werden so günstig sein, dass wir ihnen keinen Wert mehr beimessen können, heißt es. Abundanz wird allgegenwärtig sein.
Diese Haltung teilen ganz unterschiedliche Konzerne und politische Gruppierungen, Facebook ebenso wie WikiLeaks. Irgendwann, so stellen sie sich vor, wird es keine Geheimnisse und keine Zugangsbeschränkungen mehr geben. Die ganze Welt wird offen sein, als ob die Erde eine Kristallkugel wäre. In der Zwischenzeit verschlüsseln die wahren Gläubigen ihre Server, nicht ohne zuvor noch so viele Daten zu sammeln wie möglich und den besten Weg zu finden, sie für sich einzusetzen.
Man vergisst eben leicht, dass »kostenlos« unweigerlich bedeutet, dass jemand anders darüber entscheidet, wie man leben soll.
Das Problem ist nicht die Technologie, sondern die Art, wie wir darüber denken
Bis zur Jahrtausendwende mussten wir uns keine Gedanken darüber machen, dass der technische Fortschritt die Menschen entwerten könnte, denn die neuen Technologien schufen auch neue Arbeitsplätze, selbst wenn alte vernichtet wurden. Doch seit geraumer Zeit ist das dominierende Prinzip der New Economy, der Informationsökonomie, dass man den Wert von Informationen schlicht leugnet.
Wir haben entschieden, den meisten Leuten nichts für die neuen Aufgaben zu bezahlen, die im Zusammenhang mit der aktuellen Technologie von entscheidender Bedeutung sind. Gewöhnliche Menschen »teilen« Informationen mit anderen, während ein paar elitäre Netzwerke gigantische Gewinne machen.
Ob es sich dabei um Netzwerke mit direktem Kontakt zum Verbraucher wie Google handelt oder um Transaktionen, die eher im Verborgenen stattfinden wie etwa der Hochfrequenzhandel, ist in erster Linie eine Frage der Definition. Auf jeden Fall schaffen die größten und am besten vernetzten Computer die Voraussetzungen dafür, dass aus Informationen Geld wird. Die breite Masse dagegen wird mit ein paar Almosen abgespeist, um die falsche Hoffnung zu nähren, dass diejenigen, die die notwendigen Informationen liefern, von der kommenden Informationsökonomie am Ende auch profitieren werden.
Wenn im Informationszeitalter ehrlich und umfassend abgerechnet würde, würden möglichst viele Informationen ökonomisch berücksichtigt und gewertet werden. Wenn jedoch »rohe« Informationen oder Informationen, die in den Rechenzentren noch nicht verknüpft wurden, nicht als Wert an sich gelten, kommt es zu einer massiven Entrechtung. Mit der Entstehung der Informationsökonomie erhebt sich wieder das alte Schreckgespenst, das wir aus unzähligen Science-Fiction-Geschichten und totalitaristischen Albträumen kennen, und nimmt apokalyptische Ausmaße an. Gewöhnliche Menschen werden in der neuen Wirtschaft keinen Wert haben, während diejenigen, die Zugang zu den großen Rechnern haben, Hyper-Werte scheffeln.
Die Idee der kostenlosen Informationen ist tragfähig, wenn nur eine begrenzte Zahl von Menschen entrechtet wird. Ich sage es nur höchst ungern: Wir würden es überleben, wenn wir lediglich die Mittelschicht der Musiker, Journalisten oder Fotografen vernichten. Nicht tragbar ist dagegen die zusätzliche Vernichtung der Mittelschichtberufe im Transportwesen, im Handwerk und im Energiebereich, in der Verwaltung oder im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Doch zu dieser Vernichtung wird es kommen, wenn die vorherrschende Idee einer Informationsökonomie nicht verbessert und ergänzt wird.
Die Entwickler digitaler Technologien legen fest, wie Menschen heute leben, wie sie arbeiten, wie sie denken – und das anhand der Erwartungen, die sie aufgrund dummer utopistischer Szenarien hegen. Wir wollen selbstverständlich kostenlose Online-Dienste nutzen und nehmen dafür in Kauf, dass wir für die Informationen, die wir beständig liefern, nicht bezahlt werden. Das hat zur Folge, dass die meisten von uns, je wichtiger Informationen in unserer Wirtschaft werden, immer weniger wert sein werden.
Die