Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark
Kaffee«, fügte er hinzu. »Das Spülwasser, das sie im Zug serviert haben, war ungenießbar.«
Noch immer machte Frau Lang keine Anstalten, sich zu bewegen. Julius nahm es verärgert zur Kenntnis. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie so früh am Tag in eine derart schlechte Stimmung versetzt haben konnte. Bestimmt war es wieder so ein banaler Streit mit dem Kindermädchen. Die beiden führten Revierkämpfe wie zwei wilde Bären.
»Das Bad, wenn Sie so nett wären«, sagte er spitz. »Oder muss ich es mir selber einlassen?«
Die Haushälterin verzog das Gesicht. Einen schrecklichen Augenblick lang meinte Julius, sie würde gleich in Tränen ausbrechen. Aber dann huschte sie, mit seinem zusammengefalteten Mantel vor der Brust, Richtung Treppe davon. Julius seufzte. Frau Lang war nach seiner Heirat mit Luisa bei ihnen in Dienst getreten; Luisa hatte darauf bestanden. Sie erklärte Julius, Frau Lang habe jahrelang bei ihren Eltern treu und zuverlässig ihre Arbeit verrichtet, ohne sie hätten sie den Krieg niemals überlebt. Damals hatte er seine Schwiegereltern noch nicht gekannt, sonst hätte er ihr das bestimmt nicht als positiv angerechnet.
Müde rieb er sich die Stirn. Der muffige Geruch der Eisenbahn hing in seinen Kleidern, und seine Augen schmerzten. Aus dem Morgensalon hörte er das gedämpfte Klappern der Schreibmaschine. Er würde Fräulein Grüber anweisen, in der Kanzlei anzurufen und mit Böhm einen baldigen Termin zu vereinbaren. Mit einem Aufschub wäre nichts gewonnen. Über ihm, in dem von der doppelten Treppe gebildeten Bogen, leuchtete das Tafelbild von Vuillard, eine Explosion aus Sonnenglast und rosafarbenen Rosen. Er legte den Kopf in den Nacken, labte sich an dieser Süße, an dem Spiel von Farbe und Struktur, das so einfach und so komplex zugleich war wie die Natur selbst. Dann durchquerte er die Eingangshalle zum Morgensalon und öffnete die Tür.
»Guten Morgen«, sagte er. Die Stenotypistin zuckte zusammen, ihre Hände schnellten von der Tastatur zum Mund.
»Herr Köhler-Schultz, Sie sind schon zurück«, sagte sie. Ihre Stimme klang angestrengt fröhlich. »Hatten Sie – äh, ich meine –, kann ich etwas für Sie tun?«
»Ich muss mich umziehen. In einer halben Stunde gehen wir die Post durch. Vermutlich nichts Dringendes dabei?«
Fräulein Grüber biss sich auf die Lippe. »Ich wusste nicht – Ihre Verabredung heute Vormittag mit Herrn Rachmann …«
Der Händler aus Düsseldorf. Julius hatte ihn völlig vergessen. »Das ist heute?«
»Um halb elf. Es tut mir so leid, ich hätte ihm ja abgesagt, aber er hat keine Berliner Adresse hinterlassen, und ich war mir nicht sicher – das heißt, wenn Sie ihn lieber nicht treffen wollen, unter diesen Umständen, meine ich, kann ich ihn bitten, an einem anderen Tag vorbeizukommen. Wenn Ihnen das lieber wäre.«
Julius zögerte, halb versucht abzusagen. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, dass irgend so ein respektloser Jungspund aus der Provinz in seinem Arbeitszimmer herumlümmelte, die Hände in den Hosentaschen, und ihn affektiert mit dem vertraulichen Du anredete.
»Der Bursche hat Schmackes«, hatte Salazin achselzuckend erklärt. »Vielleicht bringt er Ihnen etwas Fabelhaftes. Und wenn nicht, na ja, es ist eine Echtheitsprüfung und keine Adoption. Schlimmstenfalls wird er Sie daran erinnern, was für ein Segen es ist, nicht mehr jung zu sein.« Hugo Salazin, der mit seinen sechzig Jahren immer noch den sicheren Instinkt eines Taschendiebs und das Lächeln einer preußischen Sphinx hatte. Kein Wunder, dass seine Galerie zu den erfolgreichsten in Berlin gehörte. Seufzend schüttelte Julius den Kopf.
»Nein, ich empfange ihn«, sagte er. »Händler sind wie Küchenschaben. Wenn man sie nicht gleich wieder loswird, vermehren sie sich rasant.«
Die Stenotypistin lachte höflich und zeigte dabei die Zähne. Als das Telefon klingelte, bedeutete ihr Julius abzuheben und ging nach oben. Es bestand wenig Gefahr, zu dieser frühen Zeit am Vormittag zufällig Luisa über den Weg zu laufen. Es würde noch Stunden dauern, bevor sie erscheinen würde, dennoch wappnete er sich ein wenig, als er den galerieartigen Treppenabsatz querte. Seine Räume lagen auf der Ostseite des Hauses, ihre auf der Westseite. Automatisch und mit einem unbehaglichen Gefühl blickte er in den langen Flur, der zu ihrer Tür führte. Zu seiner Überraschung stand sie offen. Ein Streifen blassgraues Licht schimmerte auf dem Parkett.
Langsam und widerstrebend ging Julius den Flur entlang und spähte hinein. Luisa hinterließ in ihrem Schlafzimmer meistens ein Chaos aus ringsum verstreuten Kleidern, Zeitschriften und aufgerissenen Briefen, auf dem zerwühlten Laken ein Tablett mit halb ausgetrunkenem Tee und angeknabbertem Toast. An diesem Morgen aber war das Bett ordentlich gemacht und der Tisch am Fenster leer bis auf eine Schale mit Blumen. Plötzlich waren auf dem Treppenabsatz eilige Schritte zu hören.
»Frau Lang?«, sagte Julius und erstarrte wie ein Hase im Scheinwerferkegel eines Automobils. »Wo ist meine Frau?«
Damit fiel sie in sich zusammen, sank auf die Stufen und hielt sich dabei mit einer Hand am Geländer fest.
»Sie ist fort«, sagte sie. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, die Worte waren kaum zu verstehen. Es habe keine Vorwarnung gegeben. Eigentlich hätte Frau Lang von ihrer Abreise auch gar nichts mitbekommen, Mittwoch war ja ihr freier Tag, aber weil sie früher zurückgekommen war, hatte sie die drei noch gesehen: die gnädige Frau und das Kindermädchen unter Regenschirmen vor dem Haus und das in Decken eingewickelte Baby, das aus Leibeskräften schrie, während der Taxifahrer versuchte, die Berge von Gepäck im Kofferraum zu verstauen. So viele Koffer, sagte Frau Lang, sie habe keine Ahnung, wer das alles gepackt habe und wie sie damit zurechtkommen wollten. Dann habe die gnädige Frau sie gesehen und das Kindermädchen ins Taxi geschoben. Sie seien in Eile, habe sie Frau Lang aus dem Autofenster zugerufen, und schon spät dran für den Zug. Ihr Reiseziel habe sie nicht verraten, sondern nur irgendetwas von ihren Eltern gesagt und dass sie sich die restlichen Sachen nachsenden lasse. Frau Lang hatte gedacht, es handle sich um einen Notfall. Sie hatte das Baby noch weinen gehört, als das Taxi losgefahren war.
»Das war gestern?«
Die Haushälterin nickte unglücklich. Sie sah ihn dabei nicht an.
»Und hat sie gesagt, wann sie wiederkommt?«
Langes Schweigen. »Sie hat einen Brief hinterlassen«, sagte sie schließlich. »In Ihrem Arbeitzimmer.«
Julius ging nach unten. Ihm war, als läge ein schwerer Stein auf der Brust, er hatte eine böse Vorahnung. Luisa hätte das Baby nicht mitgenommen, wenn sie hätte wiederkommen wollen. Sein Arbeitszimmer sah aus, wie er es verlassen hatte, die Bücher auf seinem Schreibtisch waren ordentlich aufgereiht, ein Feuer knisterte im Kamin. Mit vier Schritten durchquerte er das Zimmer, sah flüchtig den Stapel Post auf der Schreibtischunterlage durch und ließ die Kuverts fallen wie abgeworfene Spielkarten. Kein Brief von Luisa dabei. Dann trat er an den Kaminsims und schob die Rosso-Büste zur Seite. Auch da nichts. Nur eine unnatürliche Leere in seinem Augenwinkel. Eine plötzliche Kälte durchfuhr ihn, das Blut schien aus seinen Gliedern zu weichen. Das war nicht möglich. Das konnte nicht möglich sein. Benommen drehte er sich um.
Es war weg. Julius starrte auf die leere Wand, den gräulichen Abdruck, den der Rahmen hinterlassen hatte. Auf den Briefumschlag, der auf dem Nagel aufgespießt war. In seinem Schädel war ein leeres Rauschen, ein Pfeifen und Zischen wie bei einem schlecht eingestellten Radioapparat. Mit unsicherem Schritt trat er an die Wand, strich mit der Hand darüber, als könnte er es dort immer noch berühren. Als sei sein Nichtvorhandensein nur eine optische Täuschung. Die Wand fühlte sich kalt an. Ohne zu schauen, griff er nach dem Brief, riss ihn vom Nagel. Das konnte nicht wahr sein. Ein Irrtum. Ein dummer Streich, um ihn zu erschrecken. Sein Gesicht war wie erstarrt, als gehörte es ihm nicht mehr. Auch die Finger fühlten sich fremd an. Er schaffte es kaum, den Umschlag zu öffnen.
Gekritzel. Etwas über seine Unzulänglichkeiten, ihren Überdruss und ihr Elend. Dann ein neuer Absatz:
Natürlich konnte ich nicht ohne meinen Vincent fortgehen. Ihn bei mir zu haben, gibt mir das Gefühl, sicherer und irgendwie beschützt zu sein. Wie tröstlich, ihn anschauen zu können und dabei an Dich zu denken.
Die