Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark

Im gleißenden Licht der Sonne - Clare  Clark


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Viktoria ihren Pferden die Peitsche, in Seladongrün vor einem hellblauen Himmel. An diesem Vormittag wünschte sich Julius nichts weniger, als den jungen Mann zu treffen, den Salazin geschickt hatte, aber er wusste, es ließ sich nicht umgehen. Der Gesichtsausdruck des Händlers, als Fräulein Grüber die Tür zum Arbeitszimmer geöffnet hatte, war ihm nicht entgangen, sein ebenso schockierter wie faszinierter Blick, das Funkeln in seinen Augen, das vielleicht Berechnung verriet oder auch einfach nur Belustigung. Heutzutage kannten Händler keine Skrupel. Rachmann war Salazins Kreatur. Er würde keinem von beiden den Eindruck gönnen, sie hätten ihn in der Hand.

      Er hätte Rachmann erneut in die Meierstraße einladen können, es gab dort genügend Räume mit intakten Fenstern, aber Julius wollte nicht, dass ihm der Bursche noch einmal auf die Pelle rückte und ihn an Unangenehmes erinnerte. Das Musikzimmer im Adlon war für bevorzugte Gäste des Hotels reserviert. Mit seinem Bechstein-Flügel und der farbigen Stuckdecke verkörperte es verhaltenen Luxus. Dort konnte Julius die öffentliche Person sein, die man als Deutschlands überragenden Kunstkritiker kannte, gelassen, kultiviert und Respekt einflößend, ein mit den Privilegien lebenslangen Erfolges bekränzter Mann. Ein Mann, dem heftige Gefühlsausbrüche fremd waren, jemand, der zu Geschrei und zum Zerschmettern von Fensterscheiben nicht fähig war. Ebenso unmöglich wäre es einem Möchtegern-Kunsthändler aus der Provinz gewesen, sich das Adlon mit seinen astronomischen Preisen zu leisten.

      Julius bestellte beim Ober Kaffee und drückte ihm einen Geldschein in seine diskret aufgehaltene Hand. »Wenn mein Gast eintrifft, tragen Sie ihm bitte auf zu warten. Ich werde ihn um zwölf empfangen.«

      Das Treffen war für halb zwölf vereinbart. Julius ließ sich am Tisch nieder und breitete um sich herum Bücher und Schriftstücke aus. Er trank Kaffee, erst aus der einen, dann aus der anderen Tasse. Kurz nach zwölf geleitete der Ober Rachmann herein. Mit stirnrunzelndem Blick über seine Brille hinweg hob Julius einen Finger und fuhr fort, etwas aufzuschreiben. Es vergingen mehrere Minuten. Als er schließlich seinen Füllfederhalter zuschraubte, stellte Rachmann das Bild, das er bei sich trug, auf den Boden. Dann legte er erst beide Hände auf sein Herz, um sie schließlich wie zur Entschuldigung und Bitte zugleich Julius entgegenzustrecken. Bei der zarten Anmut dieser Geste dachte Julius an Degas.

      »Ich habe Sie warten lassen«, sagte der junge Mann, »das tut mir leid.« Seine Stimme war klar und leise, die verschliffenen Konsonanten verrieten einen leichten, aber eindeutigen Düsseldorfer Akzent. Julius blickte auf die goldbronzefarbene Kaminuhr.

      »Nun ja«, sagte er kühl. »Jetzt sind Sie ja hier.«

      »Ich war pünktlich da, aber man hat mich nicht zu Ihnen durchgelassen. Man hat mir wohl nicht geglaubt, als ich sagte, dass Sie mich erwarten. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob ich selbst es mir geglaubt hätte.« Sein Lächeln war warm und ungeheuchelt. »Ich bewundere Sie schon sehr lange. Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenlernen zu dürfen.«

      Im Lauf der Jahre hatte sich Julius an die Schmeicheleien gewöhnt, die solche Begegnungen begleiteten. Seine Expertise konnte den Wert eines Gemäldes um mehrere Nullen steigern. Aber an diesem Jungen war etwas anderes, fand er, weniger kriecherische Berechnung als eine Art schutzlose Offenheit. Er würde härter werden müssen, wenn er als Händler überleben wollte. Ein Mann ohne Tricks würde in Berlin nicht lange bestehen.

      »Kaffee?«, fragte er. »Wir lassen eine neue Tasse bringen.«

      »Danke. Und danke, dass Sie mich empfangen. Ich bin Ihnen so dankbar. Wirklich. Und so beeindruckt, ehrlich. Als Herr Salazin vorschlug – ich rede zu viel. Das passiert mir immer, wenn ich nervös bin, entschuldigen Sie. Und jetzt rede ich immer noch. Bitte sagen Sie, dass ich den Mund halten soll.«

      Julius lächelte und läutete nach dem Ober. »Warum zeigen Sie mir nicht, was Sie mitgebracht haben«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht bin ich dann ebenfalls dankbar.«

      Das Gemälde war ein impressionistisches Stillleben mit Blumen und Äpfeln – unverkennbar ein Schuch, die gedämpften Farben mit den für den Künstler charakteristischen groben Pinselstrichen aufgetragen. Recht hübsch, doch wie viele von Schuchs Werken etwas zu bemüht. Als Julius die Zuordnung bestätigte, lächelte der junge Mann in sich hinein, ein leises, entschlossenes Lächeln, bei dem sich seine Augenwinkel in Falten legten. Mit der Fingerspitze berührte er eine Ecke der Leinwand. Er hat die Hände eines Pianisten, dachte Julius, oder die eines Dichters. Die meisten Maler haben Hände wie Bauern.

      »Stimmt es, dass Schuch wie van Gogh zu seinen Lebzeiten nur ein einziges Bild verkauft hat?«, fragte Rachmann, während Julius das Echtheitszertifikat ausfertigte.

      »Das stimmt, allerdings wollte Schuch, anders als van Gogh, gar keines verkaufen. Er verachtete diesen ganzen Zirkus, sagte er, und außerdem stammte er aus wohlhabenden Kreisen und konnte sich ein wenig Dünkel leisten.«

      »Ich weiß nicht«, sagte Rachmann. »Vielleicht war es gerade Schuchs Dünkel, der seine Farben so eingetrübt hat. Vielleicht hätte ihm ein bisschen Armut und Leidenschaft ganz gutgetan, wie Fou-Feu.«

      Erstaunt sah Julius den jungen Mann an. Fou-Feu, verrücktes Feuer, war der Spitzname, den Julius sich für van Gogh ausgedacht hatte, für dessen Zeit bei den Huren von Arles. Die hochnäsigen Kritiker des Buchs hatten solche Einfälle als unlauter abgekanzelt, als Hirngespinste von Julius’ übersteigerter Phantasie, aber was waren dann Vincents violette Felder, seine gelben Himmel? Was ich tue, mag eine Art Lüge sein, hatte Vincent an seinen Bruder Theo geschrieben, aber nur, weil es die Wahrheit deutlicher zeigt.

      Rachmann lächelte verlegen. »›Der Sturm in seiner Brust und die wilde Sonne in seinem Herzen.‹ Ihr Buch, ich – es hat alles für mich verändert. Wie Sie über van Goghs Leben geschrieben haben, über seine Werke. Es ist das erste Buch, das beschreibt, was ich selbst beim Betrachten der Bilder empfinde. Und ich habe geglaubt, dass sich Bilder einfach nicht mit Worten erklären lassen. Aber beim Lesen Ihres Buches war es, als würden Sie sämtliche Fenster aufstoßen und Luft, das Licht und die Musik hereinströmen, und damit wurde nicht nur Vincent lebendig. Seine Bilder fingen an zu tanzen. Ihre Worte haben sie zum Tanzen gebracht.«

      Schweigen. Julius hätte nie gedacht, dass sein Vincent ein solcher Erfolg werden würde. Er hatte in dem Buch einfach nur versucht, so zu schreiben, wie van Gogh malte, er hatte die alten Regeln über Bord geworfen und stattdessen ausgesprochen, was ihm wie die Wahrheit vorkam, intensiv und in einem Rausch von Farben. Natürlich hatte der Kunstbetrieb das Buch als trivial und unwissenschaftlich abgetan, als »vulgäres Melodram«. Die Kunstszene bevorzugte akademische Abhandlungen, knochentrockene Texte, die ihren Gegenstand so sicher erstickten, als würden sie einem Menschen ein Kissen aufs Gesicht pressen, aber für diese Leute hatte Julius nicht geschrieben. Er hatte für die Rachmanns geschrieben, so wie van Gogh für die gewöhnlichen Menschen gemalt hatte, um ihnen Augen und Herzen zu öffnen. Um die Bilder tanzen zu lassen.

      »Danke«, sagte er einfach, und als er seine Unterschrift aufs Papier setzte, berührte etwas sein Inneres.

      In den darauffolgenden Wochen dachte Julius oft an Rachmann. Eines Abends, er verließ gerade die Philharmonie, meinte er, ihn an der Ecke zur Potsdamer Straße zu sehen. Er hatte bereits ein Lächeln auf den Lippen, als sich der junge Mann umdrehte – und Julius sah, dass es überhaupt kein Mann war, sondern eine junge Frau mit Bob in einem Männeranzug, das steifkragige Hemd aufgeknöpft bis zum Brustbein, der Mund ein leuchtend scharlachroter Schlitz. Während er davoneilte, steckte sie zwei Finger in den Mund und pfiff. Der schrille Ton schien die Nacht zu zerschneiden.

      Berlin veränderte sich. Trotz ihrer beißenden Schnodderigkeit waren die Berliner bekannt dafür, dass sie hart arbeiteten und Zeit gleich Geld war, aber als das Geld immer wertloser wurde, erfasste eine Art Hysterie die Stadt. In Berlin hatte es schon immer private Klubs und verrauchte Kellerlokale gegeben, versteckte Orte, die verbotene Vergnügungen verhießen, doch jetzt ergoss sich das Licht der Bars und Tanzpaläste auf die Straßen und Gehsteige, auf denen es von Menschen nur so wimmelte. Es schien, als stehe plötzlich alles zum Verkauf: spindeldürre Jungs in Matrosenhosen, die Wangen mit Rouge beschmiert; Mädchen mit kaum verhüllten Brüsten in Negligés, kurzen Röckchen oder hohen Lederstiefeln. Paare, die sich unter Straßenlaternen gierig,


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