Im gleißenden Licht der Sonne. Clare Clark
förmlich durch den Samtvorhang sehen, Vincents Sonnenblumen, primitiv und erhaben, vor Zuversicht hell erstrahlend in der gleißenden provenzalischen Sonne.
Er trat hinter den Vorhang. Ein einzelnes Bild hing an der Wand, ausgeleuchtet durch etliche in die Decke eingelassene Lampen, aber es waren nicht die Sonnenblumen. Das monumentale, in grellen Farben gehaltene Gemälde war wohl das albtraumhafteste Bild, das Julius je gesehen hatte. Ein Graben in einer infernalisch zerstörten Landschaft, eine blutige Ansammlung abgeschlachteter Soldaten mit abgetrennten Gliedmaßen, aufgeplatzten Schädeln und aufgeschlitzten Bäuchen, aus denen das Gedärm quoll. Darum herum die sich auflösenden Reste von Körpern, die die Explosion nach oben befördert hatte. In Fäulnis übergehendes Fleisch, wimmelnd von Maden. Ein verwestes Paar Hände, das wie zum Gebet aus dem Schlamm emporragte. Und über diesem Blutbad ein uniformierter Leichnam, aufgespießt auf verbogenen Eisenstützen, mit klaffenden Wunden, die blinden Augen gen Himmel gerichtet, und zwischen seinen Beinen, als obszöne Geste, die Spitze eines Bajonetts, der Griff eines Messers.
Julius schloss die Augen und tat so, als suchte er nach seiner Brille. Er träumte noch immer davon, von den Granaten, die rings um seinen Sanitätswagen explodiert waren, von dem Soldaten, der in einer scharlachroten Blutfontäne verschwunden war. Von den aufgeschichteten Leichen in einem Graben, drei Mann übereinander, davon, wie menschliches Fleisch unter seinen Stiefeln nachgegeben hatte, als sie nach den Überlebenden suchten, vom Knacken der Knochen, als wären es Holzstöckchen. Er schluckte und wappnete sich innerlich. Dann setzte er die Brille auf, trat näher an die Leinwand heran, bis sich die Maden in Farbtupfer auflösten.
»Niederschmetternd, nicht?«, flüsterte der Direktor. »Eine Vision des Leidens, die es mit Grunewald aufnehmen kann.«
»Im Gegenteil«, gab Julius barsch zurück. »Grunewald findet im Leid Schönheit. Dieses Gemälde hingegen ist abscheulicher Schmutz.«
»Es fegt einem die Schuppen von den Augen. Otto Dix war ein Kriegsheld, er hat das Eiserne Kreuz erhalten, aber dieses Bild legt die schreckliche Wahrheit offen. Der Krieg ist nicht heldenhaft. Krieg ist eine unaussprechliche Hölle.«
Julius dachte an die rotgesichtigen britischen Offiziere ein Stockwerk höher mit ihren polierten Uniformknöpfen und ihrem perfektem Deutsch. Bis zur Besatzung waren die Bürger Kölns noch nie in ihrer Geschichte gezwungen gewesen, Identitätsausweise bei sich zu tragen.
»Sie müssen es abhängen«, sagte er.
Der Direktor zog eine Augenbraue hoch. »Weil es Ihnen missfällt?«
»Weil es keine Kunst ist, sondern Propaganda. Um Himmels willen, guter Mann, glauben Sie nicht, dass sich die Briten schadenfroh die Hände reiben werden, wenn sie das hier sehen? Ein Gemälde wie dieses, in heutiger Zeit, ist nicht nur ein Anschlag auf die Moral der Deutschen, sondern eine Pistole am Kopf unseres Landes. Eine Einladung an die Besatzer, sich nach Herzenslust zu bedienen.«
»Interessant, dass Sie das so sehen. Für mich ist es der Schmerzensschrei eines hochdekorierten Kriegshelden, der uns entschlossen die Wahrheit über den Krieg zeigen will. Wäre es Ihnen lieber, er würde lügen?«
»Von mir aus kann er sich blau anmalen und kopfüber an die Dachsparren hängen. Die Geschichte wird ihn vergessen. Aber Sie, Herr Direktor, haben eine Verantwortung gegenüber Ihrem Land. Ja, der Krieg ist brutal. Aber das ist auch manchmal notwendig, wenn wir uns vor jenen schützen wollen, die uns zu vernichten trachten.«
Der Direktor lächelte gelassen. »Ich werde Otto Dix nicht zensieren, Herr Köhler-Schultz, so wenig, wie ich Sie zensieren möchte. Ihre Kolumne werde ich mit Interesse lesen.«
Die ersten Besucher strömten herein, Julius hörte das anschwellende Stimmengewirr der Gäste, die sich durch den ersten Saal bewegten. Wortlos drehte er sich um und ging davon. Er hatte keine Lust auf diesen widerwärtigen Zirkus. Im gedrängt vollen Foyer wartete er ungeduldig auf seinen Mantel. Er wollte allein sein, sich der reinigenden Wirkung der frostigen Kölner Nachtluft aussetzen. Als die Garderobenfrau ihm in den Mantel helfen wollte, griff er ihn sich einfach, legte ihn über seinen Arm und kämpfte sich Richtung Ausgang. Es war purer Zufall, dass ihm zwei Männer in den Blick gerieten, die unweit der Treppe standen. Der eine trug einen dunklen Bart und einen ausgefransten Abendmantel aus pflaumenblauem Samt. Der andere war Matthias.
Julius verschlug es fast den Atem vor Freude. Er rief Matthias’ Namen, aber im Foyer herrschte solcher Lärm, dass man ihn nicht hörte. Während er sich einen Weg durch die Menge Richtung Matthias bahnte, beugte sich dieser zu seinem Begleiter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Matthias!«, rief Julius erneut, und dieses Mal merkte Matthias auf. Julius lächelte herzlich, aber Matthias sah ihn mit gerunzelter Stirn ärgerlich an und schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht«, sagte er, oder zumindest glaubte Julius das verstanden zu haben, denn bevor Julius sich vergewissern konnte, war Matthias verschwunden, verschluckt von der Menge.
Julius fuhr mit dem Nachtzug nach Berlin zurück. Noch vom Bahnhof aus telegraphierte er an Geisheim: KEINE SONNENBLUMEN. Als er wieder zu Hause war, trug er Fräulein Grüber auf, den Redaktionsassistenten anzurufen. Sein Artikel sei um vier Uhr zur Abholung bereit. Bis dahin wollte er nicht gestört werden. Eine Stunde später klopfte die Stenotypistin leise an seine Tür.
»Was ist?«, rief er wütend.
»Entschuldigen Sie, aber Herr Rachmann ist am Telefon. Ich habe ihm gesagt, dass Sie beschäftigt sind, aber er hat sich nicht abwimmeln lassen. Angeblich ist es dringend.«
Julius blickte auf das Blatt Papier vor ihm. WAS IST SCHLECHTE KUNST?, lautete die Überschrift in Großbuchstaben. Alles andere war durchgestrichen. »Nicht jetzt«, erwiderte er barsch.
Fräulein Grüber schloss die Tür. Julius starrte auf das Blatt, knüllte es zusammen und warf es in den Kamin. Bei seinen Artikeln für die Zeitung hatte er in all den Jahren noch nie eine Schreibblockade erlebt. Stets wusste er, was er sagen wollte und wie er es am besten formulierte, wo die Balance lag zwischen fachlicher Expertise und Leserfreundlichkeit, zwischen oberflächlichem Glanz und tiefer Erkenntnis. Die Sätze flossen ihm aus der Feder wie einer Spinne der Seidenfaden, fast ohne bewusstes Zutun und nach bewährten Mustern. Diesmal aber nicht. Diesmal waren die Worte wie ein wirres Knäuel, das sich in seinem Kopf zusammenballte. Er schloss die Augen, um sie zu fassen zu bekommen, aber alles, was er sah, war Vincent, grünäugig und hager, und – gespiegelt in seinem schonungslos starren Blick – den Leichnam von Dix’ gekreuzigtem Landser.
Den ganzen Nachmittag lang rang Julius um Formulierungen, strich jedoch alles wieder durch. Nachdem er den Boten der Tribüne um vier Uhr mit leeren Händen fortgeschickt hatte, rief Geisheim an. Aber Julius ging nicht an den Apparat. Es wurde dunkel. Fräulein Grüber klopfte vorsichtig an die Tür und fragte, ob er etwas für sie zum Abtippen habe. Er schickte sie nach Hause. Einige Minuten später hörte er, wie sie sich zum Gehen anschickte, das flinke Klackern ihrer Absätze auf dem Parkett, das sonore Zuschnappen der Haustür, als sie sich hinter ihr schloss. Er stand auf und stellte sich vor den Kamin, auf dessen Rost zahllose Papierknäuel lagen. Morgen würde er zu Geisheim gehen und ihm erklären, es sei nicht die Aufgabe deutscher Zeitungen, die imperialistischen Bestrebungen von Deutschlands Feinden zu unterstützen. Er wandte den Kopf, blickte auf den Nagel an der Wand und dessen gespenstischen Schatten darunter. Böhm hatte eine Nachricht hinterlassen, als Julius in Köln war. Es sei ein Ende in Sicht. Das Gericht habe Luisas Anwälten zwei Wochen Zeit für ihre Gegenklage eingeräumt. Falls sie, wie er vermutete, nichts Substanzielles vorzubringen hatten, würde Böhm bei Gericht die Eröffnung der Verhandlung beantragen. Dann würde Julius seine Scheidung bekommen sowie sein Gemälde und seinen Sohn.
Müde rieb sich Julius den Nacken. Er vermutete, Matthias habe angerufen, um sich zu erklären, aber er war sich nicht sicher, ob ihn seine Erklärungen interessierten. Er hatte keine Zeit für derart kindisches Getue, nicht wenn es ihn aufwühlte und von seiner Arbeit ablenkte. Davon hatte er schon mit Luisa genug gehabt. Seufzend berührte er mit einem Finger den leeren Nagel an der Wand. Vincent hatte einmal an Theo geschrieben, die größte Kunst bestehe darin, andere Menschen zu lieben. Das war natürlich