Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange


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Cally beugte sich vor und betrachtete die schwarze Schrift auf Jessas Armen. »Das ist sehr gut geworden. Es muss ziemlich teuer gewesen sein. Wie konntest du dir so was leisten?«

      »Ich habe ihn mit Sex bezahlt.«

      Cally riss erschrocken die Augen auf und Jessa hätte fast laut lachen müssen.

      »Sie veralbert Sie, Cally«, sagte Ms Hart sanft.

      Jessa blies sich gegen die blauen Haarspitzen. Dann zuckte sie mit den Schultern.

      Cally neigte den Kopf zur Seite. »Warum tust du das?«

       Tja. Warum?

      Jessa wusste es nicht genau. Alles, was sie wusste, war, dass sie wütend darüber war, hier sitzen und dieses dämliche Gespräch führen zu müssen. Eigentlich war sie andauernd wütend. Manchmal fand sie sogar die Vögel im Baum vor ihrem Zimmerfenster scheiße oder einen Löwenzahn, der sich durch den Asphalt der Straße gequetscht hatte. Sie atmete durch, strich zum x-ten Mal über die Schrift auf ihrem Arm. Seit sie vierzehn war, hatte sie kleinere Jobs angenommen und das dabei verdiente Geld gespart, um sich dieses Tattoo leisten zu können. Sie hatte Zeitungen ausgetragen, im Supermarkt Regale eingeräumt und den Hund einer alten Frau aus der Nachbarschaft ausgeführt. Einmal hatte sie sich auch als Babysitterin beworben. Sie mochte kleine Kinder und sehr oft mochten die Kinder auch sie. Aber die meisten Eltern hatten Probleme damit, ihren wohlbehüteten Sprössling einem Punkgirl wie ihr anzuvertrauen. Darum hatte Jessa die Suche nach einem Job als Babysitterin schnell wieder aufgegeben. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Sie hatte es nicht nötig, dass man sie gut fand.

      Cally änderte ihre Strategie. »Man hat mir gesagt, dass du heute Morgen mit einem Streifenwagen hier abgeliefert worden bist. Was hast du angestellt?«

       Echt jetzt?

      »Du hast geklaut, stimmt es?«, hakte Cally nach.

      »Möglich.« Zu Jessas grenzenloser Erleichterung erlosch in diesem Moment das rote Licht an der Telefonanlage. Ms Hart erhob sich und Jessa dachte schon, dass sie nun in das Büro der Heimleiterin geführt werden würde. Aber Cally wurde vorgelassen.

       War ja klar!

      Als sich das Geräusch der hohen Absätze hinter der Tür verlor, atmete Jessa auf und steckte sich den Kopfhörer wieder ins Ohr. Bury a friend war gerade zu Ende und der unheimliche Song begann von vorn. Jessa hatte ihn auf Dauerschleife gestellt. Er lief so lange, bis nach ungefähr einer halben Stunde Cally wieder aus dem Büro kam.

      »Du kannst jetzt reingehen«, sagte Ms Hart zu Jessa.

      Die zog die Kopfhörer aus den Ohren und stand auf.

      Ms Trenton saß hinter ihrem wuchtigen Schreibtisch und blätterte in ein paar Papieren, wie sie es meistens tat, wenn Jessa bei ihr antanzen musste. Das war irgend so eine Masche, die einen kleinmachen sollte. Jessa tat so, als würde sie bei ihr nicht wirken, aber leider wirkte sie sehr wohl.

       Fuck!

      »Das wievielte Mal war das jetzt in diesem Jahr?«, fragte Ms Trenton noch immer, ohne aufzusehen.

      Jessa wusste natürlich genau, wovon sie sprach. Sie schwieg trotzdem.

      »Dass die Polizei dich hier abgeliefert hat, meine ich.« Die Heimleiterin hob den Blick und bohrte ihn in Jessas Augen. Sie hatte ein schmales blasses Gesicht, das stets perfekt geschminkt war, und eine breite silberne Strähne in ihrem schwarzen Haar. Als Jessa nicht antwortete, meinte sie: »Nun, dann will ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Das vierte Mal. Ich an deiner Stelle wäre nicht stolz darauf. Was hast du diesmal angestellt?«

      Jessa zerrte an ihrem Hoodie. »Ich habe meinen Körper an einen Tätowierer in Soho verkauft.«

      Ms Trenton schnaubte nur. Dann tippte sie auf die Papiere. »Fassen wir mal zusammen: Beim ersten Mal waren es mehrere Tage Herumlungern mit ein paar Punks an St. Pankras. Beim zweiten Mal tätlicher Angriff auf einen Versicherungsangestellten …«

      »Der Typ hatte mich angegrapscht!«, rief Jessa aus und wurde sofort wieder wütend, als sie daran dachte. Der Typ hatte seine dreckigen Finger schon fast unter ihrem Shirt gehabt, bevor sie ihn mit einem gezielten Fausthieb auf die Nase hatte stoppen können. Und anschließend hatte sie den Ärger gekriegt! Der Kerl war einfach so davongekommen, weil er behauptet hatte, sie würde lügen!

      »Wenn man sich als Mädchen mitten in der Nacht in der U-Bahn rumtreibt«, sagte Ms Trenton kühl, »dann darf man sich nicht wundern, Jessa.«

      Jessa warf sich gegen die Rückenlehne ihres Stuhls und zerrte erneut an ihrem labberigen Pullover. »Klar«, murmelte sie. »Vermutlich habe ich den Kerl mit meinen aufreizenden Klamotten provoziert.« Tief in ihr wühlte die Wut über das, was die Direktorin gesagt hatte, und darüber, dass man sich als Frau gut überlegen musste, was man anzog, um nicht wie Freiwild behandelt zu werden. Und dass das jeder normal fand.

      Ms Trenton reagierte nicht auf ihren Hohn. »Sehen wir mal weiter«, fuhr sie ungerührt fort. »Beim dritten Mal Ladendiebstahl. Ich frage mich immer noch, was ausgerechnet du mit einem rosa Lippenstift wolltest.«

      Diesmal schwieg Jessa, weil es ihr zu peinlich war. Sie hatte den Lippenstift in einem Anfall von geistiger Umnachtung mitgehen lassen. Nicht weil sie ihn haben wollte, sondern weil sie das Gefühl gehabt hatte, dieser bescheuerten Mandy Carlton beweisen zu müssen, wie tough sie war. In der Nacht darauf war ihr klar geworden, dass Mandy glaubte, sie hätte es getan, weil sie zu ihrer Mädchenclique dazugehören wollte. Lächerlich! Also hatte sie den Lippenstift am nächsten Tag wieder in den Laden gebracht. Erst dabei war sie erwischt worden und natürlich hatte der Ladendetektiv ihr nicht geglaubt, dass sie das Ding zurückbringen wollte. Sie knirschte mit den Zähnen.

      Ms Trenton blätterte um. »Lassen wir mal all die früheren Male weg, in denen du ausgerissen bist und tagelang auf der Straße gelebt hast, ohne dass die Polizei dich aufgegriffen hat.«

      Alles in allem zusammen ungefähr ein halbes Jahr, dachte Jessa. Ein halbes Jahr, in dem sie sich bei den obdachlosen Punks gleichzeitig gut aufgehoben und unendlich einsam gefühlt hatte.

      »Heute also Roofing? Ist das jetzt deine neueste Methode zu zeigen, wie wenig dir dein Leben wert ist?«

      Jessa biss sich auf Innenseite der Wange. »Es fühlt sich einfach gut an«, hörte sie sich sagen. Sie wollte, dass Ms Trenton verstand, dass es eine der wenigen Möglichkeiten war, sich selbst zu spüren. Lebendig zu sein.

      Ms Trenton machte sich eine kurze Notiz. »Ich werde einen Termin bei Dr. Clarke für dich machen müssen.«

      »Echt jetzt?« Jessa fuhr halb aus dem Stuhl in die Höhe. »Ich brauche keinen Seelenklempner!«

      Ms Trenton seufzte schwer. »Jessica, ich weiß, dass du noch immer sehr unter dem Verschwinden deiner Schwester leidest, auch wenn das mittlerweile fünf Jahre her ist.«

      Ich leide nicht! Jessa schluckte und ärgerte sich darüber, weil Ms Trenton es natürlich sah und weil ihr Blick plötzlich weich wurde.

      »Es war schrecklich für dich, nach dem Unfall deiner Eltern auch noch deine Schwester zu verlieren«, fuhr die Heimleiterin fort. »Und vermutlich ist es im Moment für dich nur noch schwerer.«

      »Wieso das?«

      »Weil du jetzt genauso alt bist wie Alice damals, als du sie verloren hast.«

      Schwachsinn!, schoss es Jessa durch den Kopf. Sie war über all das längst hinweg!

      Sie schnaubte. Es sollte höhnisch klingen und überlegen. Aber sie wusste, dass Ms Trenton sie durchschaute. Sie hasste es. Noch mehr allerdings hasste sie, dass schon wieder Bilder über sie hereinbrachen. Bilder von diesem einen Nachmittag im September vor fünf Jahren.

      Alice und sie hatten in einem Café an der Coventry Street gesessen …

      Jessa freute sich irrsinnig darüber, endlich mal wieder ein paar Stunden mit ihrer Schwester zu verbringen. Seit Alice aufs


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