Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange


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befand.

      Sie erklomm einen besonders hohen Hügel und blieb auf dem Gipfel stehen. Ein hochherrschaftliches Haus thronte über dem Moor. Es sah alt aus. Jessa sah bodentiefe Sprossenfenster und eine elegant geschwungene Freitreppe. Zwei mächtige Seitenflügel wurden von einer Menge Schornsteinen und Zinnen gekrönt und ein massiger Turm erhob sich über dem Ganzen wie ein mahnender Zeigefinger. Eine unbestimmte Einsamkeit strömte von dem Anwesen aus. Jessas Herz wurde schwer.

      Mit einem Keuchen wachte sie auf.

      Ihre Gedanken fühlten sich an wie ängstliche Tiere, die mal hierhin, mal dorthin jagten, sodass sie immer nur kurz einen von ihnen zu fassen bekam. Sie schloss die Augen und versuchte, sich dieses Herrenhaus zurück ins Gedächtnis zu rufen. Es hatte sich irgendwie angefühlt, als würde es tatsächlich existieren. Als würde ihre Schwester sich dort aufhalten und nach ihr rufen.

      Sie zog Alice’ Buch unter der Bettdecke hervor. Im Licht einer Straßenlaterne, das als langer, schmaler Streifen ins Zimmer fiel, sah das Cover grau aus. Sie blätterte zur Seite 27, auf der Alice mit schnellen Strichen ein Gebäude skizziert hatte: ein Herrenhaus auf einem Hügel. Ein Haus mit zwei Seitenflügeln, einem Turm und hohen Fenstern. Nur dass das Haus auf Alice’ Skizze im Gegensatz zu dem in Jessas Traum halb verfallen aussah.

      Jessa setzte sich aufrecht hin.

      Was, wenn dieses Buch ein Zeichen war? Ein Zeichen dafür, dass sie sich selbst aufmachen und nach ihrer Schwester suchen sollte? Dieses Haus, von dem sie geträumt hatte … was, wenn Alice gar nicht tot war? Wenn sie noch lebte und nicht von dort wegkonnte?

      Die Wut, die Jessa die letzten Jahre so sorgfältig geschürt hatte, war plötzlich weniger stark, weil da auf einmal noch etwas anderes war.

      Hoffnung.

      Jessa warf einen Blick auf ihr Handy. Es war erst halb zwei in der Nacht, aber sie würde jetzt auf keinen Fall mehr schlafen können, also schwang sie die Beine aus dem Bett. Leise schlüpfte sie in Jeans und Hoodie und schlich aus dem Zimmer.

      Den Zettel an der Tür vom Computerraum, auf den irgendeine Erzieherin Benutzung nach 22 Uhr strengstens verboten! geschrieben hatte, ignorierte sie. Stattdessen atmete sie durch, dann schob sie die Tür einen Spaltbreit auf und schlüpfte in den Raum. Das einzige Fenster ging auf einen Garten hinaus und es gab keine Straßenlaternen, die für ein bisschen Licht sorgten. Da Jessa es nicht wagte, die Deckenbeleuchtung anzuknipsen, musste sie ihre Handylampe benutzen. Deren Schein riss ein paar reichlich altmodische Computer aus der Finsternis, mit denen die Kids von Children’s Retreat tagsüber Hausaufgaben machen oder auch im Internet surfen durften. Jessa legte Alice’ Buch neben die Tastatur von einem, dann schaltete sie den Rechner an, wartete, bis er hochgefahren war und der Monitor anfing zu leuchten. Mit einem schnellen Blick in Richtung Fenster kalkulierte sie das Risiko, entdeckt zu werden.

      Eher unwahrscheinlich.

      Sie startete den Browser und googelte als Erstes die Bibliothek, deren Namen auf den Umschlag gestempelt war. Sie befand sich in einem der typischen Yorkshire-Häuser und Jessa konnte sich gut vorstellen, wie es darin aussah: enge Gänge und kleine Zimmer, allesamt vollgestellt mit Metallregalen, in denen alte und völlig zerlesene Bücher standen. Fast glaubte sie auch, den Bibliotheksgeruch riechen zu können, den sie so liebte. Die Website selbst war nicht besonders aussagekräftig, aber immerhin gab es eine Telefonnummer. Weil sie darunter um diese nachtschlafende Zeit natürlich niemanden erreicht hätte, speicherte Jessa die Nummer in ihrem Handy ab. Dann gab sie Haworth und Yorkshire in die Suchmaschine ein.

      Nur oberflächlich überflog sie den Wikipedia-Eintrag über die kleine Stadt und konzentrierte sich dann lieber auf die offiziellen Websites. Die Schwestern Brontë – Charlotte, Emily und Anne –, die im 19. Jahrhundert gelebt und Romane und Gedichte geschrieben hatten, waren offenbar die berühmtesten Einwohnerinnen der Stadt gewesen. Jessa stieß nahezu überall auf sie: Es gab eine Brontë-Society, die ein Brontë-Museum unterhielt, ein Brontë-Hotel, Läden, die Charlotte’s hießen oder Emily’s …

      Bei einem Bild blieb Jessa schließlich hängen.

      Es war das, was auch auf dem Cover von Alice’ Buch abgedruckt war. Jessa las den kurzen Text darunter und erfuhr, dass der Bruder der drei Schwestern, ein Mann namens Branwell Brontë, es gemalt hatte. Branwell Brontë. An den Namen erinnerte Jessa sich. Es war der Maler, über den Alice geforscht hatte. Sie betrachtete die Gesichter der Frauen und dann die nebelartig verschwommene Stelle, wo offenbar ursprünglich mal eine vierte Person gewesen war. Laut Wikipedia hatte sich an dieser Stelle Branwell selbst befunden und er hatte sich irgendwann später übermalt, weil er sich nicht gut getroffen gefunden hatte.

      Nachdenklich kaute Jessa auf der Unterlippe herum.

      Was nun? Anders als eben in der Dunkelheit ihres Zimmers kam ihr der Gedanke, dass Alice noch irgendwo dort oben in Yorkshire war und sie nach ihr suchen musste, plötzlich albern vor. Die Polizei war sich schließlich sicher, dass Alice tot war. Sie war leichtsinnigerweise bei Nebel ins Moor gegangen und nicht wiedergekommen.

      Trotzdem ging Jessa das Haus aus ihrem Traum nicht aus dem Kopf. Und dieses unbestimmte Gefühl, dass Alice dort auf sie wartete. Mehr oder weniger ziellos klickte sie auf die Bilderanzeige ihrer Suche. Dutzende von Haworth-Fotos erschienen: kleine Gässchen mit Touristenläden, die Krimskrams verkauften, Fotos des Moores im Sommer und im Winter, Fotos eines verfallenen Bauernhauses namens Top Withens …

      Das Foto einer anderen Ruine fiel ihr ins Auge – die Überreste eines Herrenhauses mit zwei Flügeln, deren Dächer eingestürzt und deren Fenster ausnahmslos zerborsten waren. Mit einem Anflug von Spannung klickte Jessa darauf.

      High Moor Grange, so hieß das Herrenhaus. Es gehörte einer uralten Adelsfamilie namens Addingham und war nicht öffentlich zugänglich. Unter dem Foto der Ruine befand sich ein Kupferstich aus dem 19. Jahrhundert, der zeigte, wie das Haus damals ausgesehen hatte.

      Es war alles da: der Turm, die beiden Seitenflügel mit ihren steilen Dächern, auf denen kleine Zinnen wie Zähne am Himmel nagten. Die mannshohen Fenster hatten Sprossen. Die Freitreppe, die zum Haupteingang führte und jetzt verfallen wirkte, war damals kühn geschwungen gewesen.

      Jessa schaute Alice’ Skizze an, aber im fahlen Flackerlicht des alten Monitors konnte sie so gut wie gar nichts erkennen. Darum ging sie das Risiko ein und schaltete die Schreibtischlampe an, um sich das Bild noch einmal genauer ansehen zu können.

      Und da war es.

      Im Schreibtischlampenlicht erkannte Jessa weitere Linien, die sie im funzeligen Schein ihrer Nachttischlampe nicht gesehen hatte. Sie hielt das Buch schräg, sodass sie in einem anderen Winkel auf die Skizze schauen konnte. Alice hatte das Herrenhaus zuerst vollständig gemalt, inklusive Schornsteinen und Zinnen und Turm. Und dann schien sie alles, was heute nicht mehr existierte, wieder ausradiert zu haben. Nur ganz fein konnte Jessa die gelöschten Teile erkennen.

      Nachdenklich zog sie die Lippe zwischen die Zähne.

      Offenbar hatte ihr Unterbewusstsein die fast unsichtbaren Teile der Zeichnung trotzdem wahrgenommen und darum hatte sie dieses Gebäude in seiner ganzen Pracht vorhin in ihrem Traum gesehen. An der ganzen Sache war nicht das Geringste geheimnisvoll oder gab Anlass zur Hoffnung.

      Sie hatte sich was vorgemacht.

      Besser, sie ging wieder schlafen.

      Mit einem altersschwach klingenden Jaulen, das sogar über die Stimme von Billie Eilish in Jessas Kopfhörern zu hören war, quälte sich der Überlandbus die schmale Landstraße entlang. Hinauf ins Moor von Yorkshire, das hinter einer dichten Wand aus grauem Nebel nur zu erahnen war. Ab und an, wenn dieser Nebel sich ein wenig lichtete, schälten sich Umrisse hervor. Eine niedrige Steinmauer. Ein einsames, verfallenes Gebäude. Einzelne Bäume, deren Äste aussahen wie Hände, die nach einem griffen.

      Jessas Blick verfing sich in dem konturlosen Grau. Der Bus nahm eine Kurve. Kurz glitten seine Scheinwerfer über das Hochmoor links von ihnen und die Nebelschwaden wirkten wie Geister, deren


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