Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange


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Kurz darauf hatte er das trübe Wetter vergessen und war ganz auf ihr Spiel konzentriert.

      Er verlor, aber erst nach einem langen und zähen Stellungskampf.

      »Matt!«, sagte Adrian, nachdem sie fast zwei Stunden lang erbittert miteinander gerungen hatten. »Willst du gleich eine Revanche?«

      Christopher warf sich frustriert gegen die Rückenlehne des Sessels. An Adrian vorbei glitt sein Blick zum Fenster.

      Er schüttelte den Kopf. In seinen Adern summte es. »Ich glaube, ich lege mich ein bisschen hin. Ich habe die Nacht nicht besonders gut geschlafen.«

      Adrian musterte ihn ein paar Sekunden lang eindringlich und Christopher wusste, was er dachte.

      Als ob das was Neues wäre.

      Er hielt Adrians Blick stand, bis er nickte.

      Gemeinsam räumten sie die Schachfiguren fort. Adrian nahm die Schachtel und das Brett. An der Tür sagte er: »Ich bin in der Bibliothek. Ich habe da gestern ein Buch von Darwin gefunden, das dich bestimmt auch interessiert. Komm dazu, wenn du kribbelig wirst.«

      Christopher rieb sich die Augen. »Mache ich«, versprach er. Er hatte allerdings nicht vor, seine Zeit mit Lesen zu verbringen. Solange es nebelig war, hätte er sich nie im Leben auf ein Buch konzentrieren können.

      Noch einmal sah Adrian ihm direkt in die Augen. »Hoffentlich!«, sagte er. Dann ging er und Christopher blieb allein zurück.

      Einen Moment stand er unschlüssig im Raum und starrte gegen die Tür. Nach einer Weile gab er sich einen Ruck. Er ging ins Schlafzimmer und schob die Klamotten zur Seite, die er vorhin aufs Bett geworfen hatte.

      Eine mit Schnitzereien reich verzierte Kiste kam darunter zum Vorschein.

      Er öffnete sie.

      Darin lag der Trommelrevolver, den er Adrian abgenommen hatte, und daneben noch ein zweiter, genau gleicher. Sachte strich Christopher mit den Fingerspitzen über das matte Metall.

      Er fröstelte, weil es sich so gut anfühlte, die Waffen in Reichweite zu wissen. Er war froh, dass Adrian vorhin beim Reinkommen die Kiste auf seinem Bett nicht gesehen hatte. Sein Bruder hatte keine Ahnung davon, dass er die Revolver seit letzter Woche unter seinem Bett aufbewahrte. Und das sollte auch so bleiben, denn auf keinen Fall wollte Christopher, dass sich eine Szene wie neulich wiederholte. Es hatte ihn schockiert, dass ausgerechnet Adrian vorgeschlagen hatte, ihren vor fünf Jahren geschlossenen Schwur durchzuziehen und die Waffen gegeneinander zu erheben. War es nicht eigentlich seine Rolle, ständig mit einem Fuß über dem Abgrund zu schweben?

      Er nahm die Kiste, verstaute sie unter seinem Bett und ging zurück ins Wohnzimmer zu seinem Flügel, bei dem er ein paar Tasten anschlug. Die Melodie – eine Variation von Beethovens Mondscheinsonate – perlte durch den hohen Raum.

      Draußen vor dem Fenster wurde der Nebel noch ein bisschen dichter. Das Schachspiel hatte ihm für einige Stunden Erleichterung verschafft, aber jetzt fühlte er sich wieder überreizt und müde, melancholisch und aufgekratzt, alles gleichzeitig.

      Seufzend klappte er den Deckel über den Tasten zu.

      Der Nebel schien nach ihm greifen zu wollen.

      Sein Herzschlag beschleunigte sich und diesmal warf Christopher sich auf dem Absatz herum und eilte aus dem Raum. Mit langen Schritten lief er den Gang entlang, vorbei an den nachgedunkelten Gemälden seiner Vorfahren und über die roten Teppiche, die seine Mutter angeschafft hatte. Über eine schmale Steintreppe gelangte er ins Untergeschoss und von dort aus zu den ehemaligen Stallungen. Nur eine der Boxen, in denen früher die Kutschpferde gestanden hatten, war sauber gefegt. In ihr stand Christophers Enduro.

      Er lächelte, als er sie betrachtete. Dann schob er die Geländemaschine nach draußen.

      »Bleiben Sie unbedingt auf dem Weg! Wenn Sie bei dem Nebel ins Moor laufen, kommen Sie nicht wieder zurück.« Das waren die letzten Worte gewesen, die die Frau auf dem Nebensitz Jessa mitgegeben hatte.

      Sie umklammerte die Riemen ihres Rucksacks. Mit jedem Schritt, der sie weiter von der Straße wegführte, schien sich der Nebel dichter um sie zu schließen. Zuerst sah sie noch die Konturen der umliegenden Berge. Nach einer Weile dann waren da nur noch die niedrigen Steinmauern rechts und links. Tief atmete sie die feuchte Luft ein. Sie verlor jedes Zeitgefühl und als plötzlich das Geräusch eines Motorrads über das Moor hallte, zuckte sie zusammen. Doch die Maschine schien weit weg zu sein. Gleich darauf jedenfalls war sie nicht mehr zu hören.

      Die Nebelschwaden wurden dichter und es war, als würde sich Watte auf Jessas Ohren legen. Kurz darauf glaubte sie zu hören, wie jemand einen Namen rief, aber sie konnte nicht verstehen, was für einen. Schritte näherten sich ihr. Mit einem Ruck blieb sie stehen, um zu lauschen, aber da war … nichts. Nur ihr eigenes klopfendes Herz und tiefe, drückende Stille.

      Langsam ging sie weiter und ermahnte sich, nicht die Nerven zu verlieren.

      Es war nur Nebel.

      In einem Blog über Yorkshire, den sie auf dem Weg hierher gelesen hatte, hatte jemand von der eigenartigen Akustik geschrieben, die über dem Moor herrschte, wenn Nebel war. Geräusche trugen dann sehr weit und wurden gleich darauf von dem dichten Grau verschluckt. Das hatte rein gar nichts mit Hexenwerk zu tun.

      Unheimlich war es aber trotzdem.

      Sie lenkte sich davon ab, indem sie sich überlegte, was sie tun würde, wenn sie bei den Ruinen von High Moor Grange angekommen war. Natürlich würde sie sich umsehen. Vielleicht würde sie sich dabei vorstellen, wie Alice ebenfalls dort gewesen war. Und vielleicht spürte sie ja auch Alice’ Anwesenheit, so wie in ihren Träumen. Sie wusste nicht, ob sie sich das wünschte oder ob sie doch eher Angst davor hatte.

      Ein unangenehmes Kribbeln rann ihren Rücken hinunter.

      Mit einer gehörigen Portion Trotz marschierte sie weiter und landete nur ein paar Minuten später bei einem Hindernis. Die Mauern liefen hier enger zusammen und endeten bei einem Steinbogen, in den ein über zwei Meter hohes schmiedeeisernes Tor eingelassen war. An der höchsten Stelle des Bogens befand sich ein Wappen. Es zeigte zwei gekreuzte Schwerter und darunter die Darstellung eines großen Wolfes mit gesträubtem Fell.

      Jessa hatte dieses Wappen auch auf der Website gesehen, auf der sie den Kupferstich gefunden hatte. Es gehörte der Familie, die vor Jahrhunderten das Anwesen erbaut hatte.

      Maschendraht reichte bis an den Torbogen und verlor sich rechts und links im Nebel. Jemand hatte offenbar etwas dagegen, dass man sein Land betrat. Ob das gesamte Land eingezäunt war? Schwer vorstellbar. Vermutlich musste sie nur lange genug an dem Zaun entlanggehen, um irgendwann sein Ende zu erreichen.

      Andererseits hatte die Frau im Bus ihr geraten, auf dem Weg zu bleiben.

      Nachdenklich starrte Jessa das moderne Sicherheitsschloss des Tores an. Der Maschendrahtzaun war ungefähr zwei Meter hoch. Sie war schon über höhere geklettert. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie rückte ihren Rucksack zurecht, dann griff sie in die Maschen, stemmte die Füße dagegen und zog sich hoch.

      Jenseits des Zauns führte der Weg weiter leicht bergauf. Sie marschierte durch den dichten Nebel. Die Geräusche waren mal da, dann wieder waren sie weg.

      Irgendwann blieb Jessa mit einem Ruck stehen.

      Hatte da jemand eine Melodie gesummt?

      An ihrem gesamten Körper richteten sich die Haare auf.

      »Alice?«

      Die wispernde Stimme erklang so unvermittelt und vor allem so nah, dass Jessa mit einem erschrockenen Schrei auf den Lippen herumwirbelte. Ihr Blick bohrte sich in den undurchdringlichen Nebel, versuchte, ihn zu durchdringen.

      Vergeblich.

      »Ist da wer?«, fragte sie mit dünner Stimme.

      Sie erhielt keine Antwort. Wieder hörte es sich an, als würden weit entfernt erklingende Stimmen herangetragen werden, wieder war da das Brummen dieses Motorrads. Jessa straffte die Schultern.


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