Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange
ihre eigenen Füße und landete neben ihm im Dreck.
»Das Tor …«, hörte sie ihn flüstern. »Du musst das Tor aufmachen …« Dann brach er zusammen.
Ihre Augen tränten und ihr Schädel dröhnte, aber sie achtete auf beides nicht. Sie rannte zu der Enduro und zog den Schlüssel ab. Welcher war der für das Tor? Mit fliegenden Fingern ging sie die Schlüssel durch. Unmöglich, es zu erkennen, also probierte sie den ersten, den zweiten. Beim dritten hatte sie Glück. Das Schloss ging auf und sie konnte das Tor aufstoßen.
Aber was jetzt? Christopher war nicht mehr in der Lage, allein zu laufen. Als sie zu ihm zurückhastete, versuchte er zwar noch einmal, sich aufzurichten, aber vergeblich. Er fiel zurück in den Dreck und rührte sich nicht mehr. Sie drehte ihn um und prallte zurück. Er blutete jetzt nicht nur aus Nase und Mund, sondern auch aus Augen und Ohren. Es sah furchterregend aus.
»Was ist das?«, schrie sie, während sie ihn unter den Achseln packte und all ihre Kraft zusammennahm. Sie schaffte es, ihn einen halben Meter auf das Tor zuzuzerren, aber dann musste sie innehalten. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Noch einmal zog sie, so fest sie konnte. Aussichtslos! Bis zum Tor waren es noch mindestens sechs oder sieben Meter.
»Verdammt, Christopher!«, schrie sie.
Plötzlich war jemand bei ihr. Harte Hände packten sie an den Schultern, schoben sie einfach zur Seite. »Lass mich«, sagte eine rasselnde Stimme, die ihr eisig tief in den Leib fuhr. Eine ganz in Grau gekleidete Gestalt beugte sich über Christopher. Der Typ aus dem Herrenhaus! Er hob Christopher auf die Arme, trug ihn zum Tor, wankte hindurch, drei, vier Schritte weiter. Vorsichtig legte er ihn zurück auf die Erde.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Jessa auf den Rücken des Typen, der die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte und jetzt auf Christopher niederblickte. Sie taumelte ein wenig näher heran.
»Bleib, wo du bist!«, warnte der Typ sie.
Jessa erstarrte.
»Es wird ihm bald wieder besser gehen«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
»Adrian …«, wisperte sie.
Er zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. »Nicht! Sprich mich auf keinen Fall an!« Sekundenlang stand er da, den Kopf gesenkt, als würde er auf ein grausames Urteil warten. »Gleich kommt jemand und hilft«, sagte er. Dann ging er.
Jessa starrte ihm nach, bis er um die nächste Kurve verschwunden war.
Adrian rannte. Obwohl seine Lungen wie Feuer brannten und seine Beine gegen den scharfen Lauf protestierten, wurde er nicht langsamer. Es fühlte sich an, als seien Dämonen hinter ihm her. Seine Dämonen. Tief in seinem Herzen saßen sie, krallten sich mit scharfen Klauen in sein Herz und quetschten es zusammen, bis er keine Luft mehr bekam.
Sein Keuchen verwandelte sich in ein Wimmern und schließlich musste er kapitulieren. Er blieb stehen. Seine Brust hob und senkte sich in dem verzweifelten Versuch, Luft zu bekommen. Sein Verstand kreischte.
Nein! Neinneinnein!
Wieso nur hatte er Christopher nicht davon abgehalten, heute zu Elizabeth zu fahren? Er hatte die Katastrophe kommen sehen.
Er stützte sich auf den Knien ab. Ihm war schlecht. Er war rein zufällig in der Nähe des Tores gewesen, als er die Enduro gehört hatte. Nur deswegen hatte er Christopher retten, hatte verhindern können, dass sein Bruder sich in ein hilfloses, blutendes, schreiendes Bündel Fleisch verwandelte. Aber dafür hatte er Jessa zum zweiten Mal gegenübertreten müssen, was niemals hätte geschehen dürfen. Schlimmer noch: Er hatte gesehen, wie verzweifelt sie versucht hatte, Christopher das Leben zu retten, und damit hatte sie sein Herz angerührt.
Jessa. Hatte. Sein Herz. Angerührt.
Er stützte sich auf den Knien ab und warf den Kopf in den Nacken. »Warum?«, schrie er.
Als er sich wieder aufrichtete, wusste er, dass er die Waffen, die Nell aus Christophers Zimmer geholt und weggeschlossen hatte, wieder an sich bringen musste.
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