Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange


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Hof, durch eine Toreinfahrt und hinaus auf eine andere Gasse. Hier schlug sie einen Bogen, bis sie sich in Henrys Rücken befand.

      Er stand noch immer bei den antiquarischen Büchern, spähte durch die Scheibe des Teeladens und wartete darauf, dass sie wieder rauskam.

      »Viel Spaß beim Lesen«, murmelte Jessa und machte sich auf den Weg zur Golden Age Residence.

      Das Seniorenheim war in einem ehemaligen Herrenhaus untergebracht und lag ein wenig außerhalb des Dorfes. Ms Galloway wartete bereits vor dem Haupteingang auf sie, zu dem drei Stufen und eine Rollstuhlrampe hinaufführten.

      »Elizabeth ist die Schwester meiner verstorbenen Mutter«, erklärte sie Jessa auf dem Weg durch die breiten, mit hellgelbem Linoleum ausgelegten Flure. »Sie hat außer mir niemanden mehr, darum bin ich vor einem Jahr zurück nach England gekommen.«

      »Sie haben im Ausland gelebt?«

      »In Paris, ja. Ich habe dort eine Stelle in einer kleinen, privaten Bibliothek gehabt.«

      »Paris muss schön sein«, sagte Jessa, mehr, weil sie das Gefühl hatte, Small Talk betreiben zu müssen, als weil sie es wirklich so meinte. Sie war in ihrem Leben noch nicht aus England rausgekommen und vielleicht würde sie das auch nie. Ob das anders gewesen wäre, wenn ihre Eltern nicht bei diesem Autounfall gestorben wären?

      Sie vertrieb den aufblitzenden, traurigen Gedanken.

      »Ah, da sind wir ja.« Ms Galloway seufzte leise.

      Elizabeth Rush stand auf dem Schildchen neben der Tür, bei der die Bibliothekarin stehen blieb. Sie klopfte und als kein »Herein!« kam, schob sie die Tür auf und spähte hindurch. »Niemand da«, sagte sie, dann öffnete sie die Tür ganz.

      Das Zimmer war nicht groß, aber geschmackvoll eingerichtet. Nur das Bett passte nicht in den eleganten Rahmen, denn es war ein normales Krankenhausbett mit Sicherungsgittern an den Seiten, von denen eines hoch- und das andere runtergeklappt war.

      Das Fenster stand weit offen und Stimmen von Menschen, die sich in einem kleinen Park davor unterhielten, waren zu hören.

      »Vielleicht ist sie auch draußen bei diesem schönen Wetter«, murmelte Ms Galloway. Sie trat ans Fenster, um nachzusehen, und Jessa folgte ihr.

      »Da ist sie ja!« Ms Galloway deutete auf eine Bank, auf der, umrahmt von immergrünen Zierbüschen, eine gebeugte Frau in einem eleganten rosa Kostüm saß. Sie war alt, mindestens neunzig. Ihre Haare waren sorgfältig gemacht und hatten einen violetten Schimmer. Um den Hals trug sie eine Perlenkette.

      Neben der Frau saß jemand und Jessa erstarrte, als sie ihn erkannte.

      Christopher!

      Wie gestern auch trug er Jeans und ein Hemd, dazu eine ziemlich teuer aussehende Lederjacke, deren Kragen er hochgeschlagen hatte. Auf Jessa wirkte das reichlich affektiert. Gar nicht affektiert allerdings schien es, wie er Elizabeth mit schief gelegtem Kopf und warmem Lächeln zuhörte. Und was Jessa am meisten verblüffte: Er hielt ihre Hände wie ein Liebhaber die von seiner Angebeteten.

      »Stimmt, heute ist ja Dienstag«, hörte Jessa Ms Galloway sagen. »Dieser junge Mann kommt meine Tante jeden Dienstag besuchen. Seinen richtigen Namen kenne ich nicht, aber Elizabeth hält ihn für jemanden namens Christopher.«

      Die Worte der Bibliothekarin klangen, als kämen sie aus weiter Ferne. Jessa starrte diese uralte Frau an – und den Blödmann, der in diesem Augenblick überhaupt nicht blöd wirkte.

      »Ich habe keine Ahnung, woher die beiden sich kennen«, erklärte Ms Galloway. »Ich habe ihn einmal danach gefragt, aber er ist mir ausgewichen. Ich kann nur vermuten, dass er ein Verwandter von diesem Christopher von damals ist. Sein Enkel vielleicht, da er denselben Namen trägt. Das ist hier in der Gegend heutzutage immer noch üblich.«

      Jessa wandte den Blick der Bibliothekarin zu.

      Ms Galloway lächelte versonnen. »Dieser Mann muss ihre große Liebe gewesen sein.«

      Jessa sah wieder aus dem Fenster, wo Elizabeth Christopher ihre Hände entzog und dann auf den breiten Ring deutete, den er am Mittelfinger trug. »Den habe ich dir bei diesem alten Händler in Camden gekauft, erinnerst du dich?«, fragte sie mit einer kindlichen Begeisterung, die Jessa die Kehle zuschnürte. Sie schämte sich dafür, dass sie hier so schamlos lauschte. Und es wurde ihr noch unangenehmer, als nun auch noch Christopher sprach.

      »Natürlich erinnere ich mich«, erwiderte er sanft. Er senkte den Kopf und rieb sich die Stirn.

      »Damals hast du mir dieses Gedicht geschrieben. Weißt du noch? Das, das anfängt wie ein Sonett von Shakespeare.«

      »Ich weiß, Elizabeth.«

      »Soll ich dich einem Sommertag vergleichen …«, begann sie zu rezitieren.

      Ms Galloway seufzte. »Wie ich schon sagte: Elizabeth ist dement. Sie erinnert sich am besten an Dinge, die sie als junge Frau erlebt hat.«

      »Und er tut ihr den Gefallen und spielt mit.« Jessa wusste nicht, ob sie das gut oder scheiße finden sollte, aber einen Moment lang konnte sie sich über das selige Lächen der alten Frau freuen. Für Elizabeth war Christopher ihr lang verstorbener Geliebter. Was war also schon dabei, dass er sie genau genommen anlog?

      »Warum will er nicht mit Ihnen reden?«, fragte sie.

      Ms Galloway schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber beide Male hatte ich keine Gelegenheit, ihn das zu fragen, weil er …«

      Sie unterbrach sich, denn genau in dieser Sekunde zuckte Christophers Hand zu seinem Gesicht hoch. Die Bewegung sah exakt so aus, wie die, die er gestern an der Hotelrezeption gemacht hatte, als seine Nase angefangen hatte zu bluten. Und genau wie gestern auch presste er die Fingerspitzen gegen seinen einen Nasenflügel.

      Ms Galloway nickte. »Ja, genau deswegen. Er scheint irgendwie krank zu sein. Umso wunderbarer von ihm, dass er trotzdem jede Woche kommt, nicht wahr? Meine Tante ist danach immer wie beseelt.«

      Unten im Park machte Christopher Anstalten aufzustehen, doch Elizabeth war nicht einverstanden damit. Sie zog ihn zurück auf die Bank.

      »Nur noch ein paar Minuten«, bat sie. Sie legte ihm eine Hand an die Wange und sah ihm in die Augen wie jemand, der gerade frisch verliebt war.

      Jessas Herz krampfte sich zusammen.

      Christopher nahm Elizabeths Hand, küsste ihre Fingerspitzen. Das Blut war im Moment nichts weiter als ein haarfeiner Faden, der ihm aus der Nase rann. Mit dem Handrücken wischte er es fort. Dann erhob er sich endgültig. Er beugte sich über Elizabeth und küsste sie sanft auf die Stirn. Dabei streifte sein Blick über den Kopf der alten Frau hinweg.

      Instinktiv wollte Jessa sich vom Fenster zurückziehen, aber es war natürlich zu spät. Christopher riss entsetzt die Augen auf, als er sie sah.

      Ja, dachte Jessa. Ich wäre jetzt auch lieber woanders. Trotzdem gelang es ihr nicht, sich aus ihrer Starre zu befreien.

      »Kennst du ihn?«, fragte Ms Galloway überrascht.

      Jessa wollte nicken, aber es ging nicht. Alles, was sie tun konnte, war, wie zu Stein erstarrt dazustehen, während Christopher sie anstarrte.

      »Offenbar«, kommentierte Ms Galloway. »Dann sollten wir am besten dort runtergehen.«

      Widerstand war völlig zwecklos. Ms Galloway packte Jessa kurzerhand am Arm, zog sie mit sich und so fand sie sich gleich darauf im Park bei Elizabeth und Christopher wieder.

      Obwohl sie am liebsten von hier abgehauen wäre, nickte sie Christopher betont gelassen zu. »Hey.«

      »Selber hey. So schnell sieht man sich wieder.« Seine Stimme klang ausdruckslos und aus irgendeinem Grund ärgerte es sie, dass er sich sehr viel besser im Griff hatte als sie. Vor lauter Scham darüber, dass sie ihn und Elizabeth belauscht hatte, raste ihr Herz so sehr, dass sie fürchtete, er würde es ihr ansehen. Um ihre Aufregung zu verbergen, fragte sie betont lässig: »Gar nicht sauer, dass


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